Der Stasi-Strizzi. Kathrin Schmidt erkundet die Alchemie der Psyche: “Seebachs schwarze Katzen” (SZ, 03.02.06)
Es gibt exakt zwei Sorten Männer: Die einen können durchaus auch mal in Ruhe in einer stillen Bibliotheksecke sitzen und lesen. Die anderen würden im erotischen Magnetfeld der Bibliothekarin niemals zur Ruhe kommen, könnten nicht ein einziges Wort entziffern und würden nur noch davon träumen, die Herrin der Bücher zu durchblättern. Der triebstarke Bert Willer gehört zur letzteren Sorte. Zu DDR-Zeiten heuert die Stasi den talentierten Verführer an. Natürlich haben die Geheimdienstler für so etwas ihre Tricks. Gänzlich schuldig für sein kaputtes Leben ist Bert Willer nicht. Das ist in Kathrin Schmidts neuem Roman niemand. Willer ist ein homme à femmes, er hat das gewisse Etwas, das regimekritische Frauen in die verwanzten Kissen sinken läßt. Er setzt seine Verführungskünste für den Klassenkampf ein, er ist der Stasi-Strizzi. Er betrügt seine kluge Frau Lou mit zahllosen Oppositionellen, die er aushorcht und mürbe streichelt. Eines seiner Lieblingsopfer ist Bejla, die “kleine Psychologiestudentin mit den literarischen Ambitionen.”
Doch nicht nur die Praxis fasziniert Willer, auch die Theorie. Er promoviert mit einem nützlichen Brevier zu psychologischen Zersetzungsmaßnahmen. Als Lou nach dem Mauerfall von seinem Doppelleben erfährt, wendet sie sich von ihm ab, bis sie schließlich zehn Jahre nach der Wende aus dem Leben scheidet und Willer mit dem gemeinsamen Sohn Daniel zurückläßt. Gut fünfzehn Jahre nach der Wende findet Daniel Aktenmaterial, das ihn die Vergangenheit seines Vaters erahnen läßt. Nun nimmt das Familiendrama seinen Lauf. 15 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR kollabieren nun auch endgültig ihre Bürger.
Es wäre nun sehr einfach, den Plot dieses Romans zu verspotten. Vor allem im ersten der drei Teile, in dem der vertrackte Knoten der Familienverwicklungen erst noch geschürzt werden muß, befremdet die zwanghafte Seelenklempnerei der Diplom-Psychologin Schmidt. Jede Seite ein Trauma, jeder Absatz eine krude Übersprungshandlung, die man gar nicht im Detail zitieren möchte, weil sie ohne das samtige Futteral von Schmidts origineller Prosa einfach nur albern wirken würde. Das macht diesen komplexen Text so fragil. Es ist ein einziges Delirieren und Halluzinieren, eine schwindelerregende psychosomatische Achterbahnfahrt mit epileptischen Zwischenstopps, so daß man hin und wieder der Autorin raten möchte, sich doch vielleicht endlich von ihrem Psychologie-Lexikon zu trennen, damit sie nicht immer an seinem Register entlang schreiben muß - von Angst bis Zetermordio.
Manchmal fragt man sich, ob ein Mensch überhaupt so viel Psyche haben kann wie die Figuren dieses Romans. Keiner dieser Hell- und Grellfühligen kann einfach mal den Kühlschrank aufmachen, ohne daß er nicht augenblicklich brutalstmöglich in eine eisige Jugend zurückkatapultiert würde. Kaum ist man dankbar für zehn ganz pragmatisch „durchregierte“ (Angela Merkel) Seiten, bekommt wieder irgendwer einen epileptischen Anfall. Die Psyche erscheint hier oft als effektheischender Jahrmarktschausteller, der mit immer tolleren Sensationen und halluzinatorischen Special Effects zum Großen Verdrängungskarussell im Neurosen-Themenpark lockt.
Erstaunlicherweise gelingt es der Autorin jedoch nach und nach, die vertrackten Familienverwicklungen, all die Psychosen und Neurosen zu einem mathematisch kalkulierten Muster zu legen, so daß man schließlich der raffiniert geführten Handlungslinie ebenso gespannt folgt wie zuvor nur dem bannenden Rhythmus von Schmidts Sprachduktus. Langsam – und diese Zeit sollte man dem Text zugestehen - entwickelt sich dieser analytische Familienroman zu einem Psycho-Thriller in Zeitlupe, der immer wieder mit neuen Wendungen überrascht. So liest man schließlich ein beklemmendes Melodram im Stile David Lynchs, für dessen irrwitzige Arrangements am Schluß die kranke Bejla verantwortlich zeichnet, die „kleine Psychologiestudentin mit den literarischen Ambitionen“. Der Irrsinn des Textes entpuppt sich letztendlich als maliziöse und raffinierte Rachephantasie einer Paranoikerin, in der alles zusammenhängt. Bejla verstrickt Bert in ein ähnlich grausames Beziehungsgeflecht wie jenes, in das er sie zuvor eingesponnen hat. Hier macht jeder jeden verrückt. Im eigentlichen Wortsinne.
Das Wunder dieses Textes besteht darin, wie es seiner Autorin gelingt, den Leser durch eine dichte, hochpräzise und immer plastische Sprache in ihre zwangspsychologisierende Räuberpistole hineinzuziehen. Irgendwann ist man bereit, die Spannung zwischen hanebüchenen Psycho-Schmankerln und sorgfältig ausgemalten Innenwelten als das genuin Besondere dieser Autorin zu akzeptieren. Schmidt ist die Meisterin eines psychologischen Hyperrealismus’, der durch überscharfe Präzision schnell ins Phantastische kippen kann. Trotz anfänglicher Skepsis nimmt man bald eine Weltsicht hin, für die es keine Normalität gibt. Unter dem Prosa-Mikroskop wird noch der harmloseste Marienkäfer zum Monster. Die Gedächtniskapseln aller Figuren sind durchlässig, Erinnerungen diffundieren in die Gegenwart und packen die Menschen gnadenlos im Genick. Pubertierende regredieren hier nicht nur im psychologischen Sinne, sondern schrumpfen um glatte 10 Zentimeter. Wahnhaft öffnen sich immer neue Verästelungen im Psycho-Labyrinth.
Waren die Figuren in Schmidts letztem Roman noch sämtlich Opfer der „Liebe, der alten Hur“, zappeln sie nun in den Fängen der „alten Fettvettel Zeit“, die irgendwann alles Verdrängte zurück ans Licht bringt, und dann schlägt es mit doppelter Wucht zu. Obwohl das nun alles sehr nach Therapielehrbuch klingt, verstummt irgendwann das Lästermaul im Leser, schleichen sich Fettvettel Hohn und die alte Hur Spott von dannen, und man ist bereit zu glauben, daß irrwitzige Gesellschaften irrsinnige Verhaltensmuster hervorbringen. Denn das ist die Lektion dieser mit Psychosen und Neurosen gespickte Prosa: Monströse gesellschaftliche Makrostrukturen produzieren alptraumhaft changierende Mikrostrukturen. Das kranke Beziehungsgeflecht um Bert Willer ist ein Echo auf die perversen Stasi-Arrangements. Vielleicht ist Schmidts überladener Psycho-Barock die angemessene Kunstform, um auf die Delirien einer Wahngesellschaft zu reagieren.
Bei allem dramaturgischen Aberwitz bettet Kathrin Schmidt ihre verschlungenen Beziehungsgeflechte und Forschungen zur Alchemie der Psyche in einen sehr welthaltigen Erzählrahmen. Genau beobachtet sie das Wechseln Berlins vom antikapitalistischen Grau hin zum pastellfarbenen Traum der Immobilienmakler, weiß noch den kleinsten Wurm im Obst zu benennen und kann die Provinz ebenso eindringlich wie die Hochhausviertel der Metropole heraufbeschwören. In dieser Prosa führen die trostlosen Pfade der verwalteten Gesellschaft direkt durch das mythische Terrain des Märchens: „Nach seinem Aussteigen streuselte er ziellos umher, nahm den Weg nach dem Rotkäppchenwald, wo vermutlich abgehalfterte ABM-Kräfte eine achthundert Meter lange Rotkäppchentour eingerichtet hatte, mit einer zum Sitzen einladenden Kiefer, auf der sich Rotkäppchen ausgeruht haben soll.“
Man muß vielleicht nicht mehr unbedingt an den alten Fettvetter Psychologischer Roman glauben. Fest steht aber, daß Kathrin Schmidt mit ihren phantastisch delirierenden Familienaufstellungen sicherlich seine originellste Evangelistin im deutschen Sprachraum ist. Nur sollte die Autorin vielleicht manchmal ihren Drang zügeln, auch noch dem zerrupftesten Gänseblümchen am staubigen Wegesrand ein Familientrauma zwischen die gestört pulsierenden Blütenstempel zu dichten. Sonst verkommt traumatische Familienverstrickung irgendwann zur Masche. Wenn zum Beispiel ein Hund aus lefzenschmatzender Ich-Perspektive von Kindheitstraumata und sexuellem Mißbrauch durch seine räudigen Hundegeschwister berichtet, kann Schmidt ihre doch so kostbare Prosa vor unfreiwilliger Komik und Selbstparodie nicht mehr retten. Immerhin ist es ein spanischer Strandköter und nicht ein pensionierter Stasi-Schäferhund. Überhaupt, Stasi-Räuberpistolen: Gut jetzt, oder?
Kathrin Schmidt: Seebachs schwarze Katzen, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 86 S. XX, YY Euro