Stephan Maus

Paulo Coelho: ‘Der Zahir’ (SZ)

Paartherapie auf singenden Wanderdünen - Paulo Coelho plündert esoterische Parallelgesellschaften: “Der Zahir” (SZ, 07.06.05)

Gigantisch aber, liebe Gemeinde, ist die Blase des spirituellen Vakuums, die sich um unseren kalten Planeten bläht, die Stratosphäre zurückdrängt und dem Allmächtigen ins Nierenbecken drückt. Schon seit Monaten gibt es keine Offenbarungen mehr von den grell geschminkten Lippen unserer sanftäugigen Uriella; – wurde sie von Uschi Glas’ Gesichtscreme aus der sichtbaren Welt geätzt? Auch die mesmerische Strahlkraft des gesalbten Pastor Fliege läßt sichtlich nach, und im Vatikan waltet nach dem polnischen Popstar nun ein deutscher Dogmatiker mit dem Sex-Appeal einer textkritischen Kant-Gesamtausgabe. Wer soll unseren Jenseits-Hunger stillen? Sogar die heilsbringende Klon-Sekte der tapferen Raelianer ist nun schon seit drei Sonnenfinsternissen verstummt.

Ist sie das wirklich? Mitnichten! In einem Geheimlabor im brasilianischen Urwald haben die DNA-Jünger einen hocheffizienten Verkündigungsgolem geklont, der unkontrolliert Erweckungsbotschaften in die spirituelle Vakuumblase pustet. In einer revolutionären Download-Operation haben sie ihrem Propheten einen synkretistischen Cocktail aus den Binsenweisheiten sämtlicher spiritistischer Parallelgesellschaften unter die hohle Hirnschale gejubelt. Druidische Konfirmandensprüche, Voodoo-Kalenderweisheiten und die 250 sinnigsten Glückskeks-Slogans aus dem Konfuzius Fabrikverkauf: Alles drin. So aber entstand der unbesiegbare Synkretin Coelho.

Laut der Nachrichtenagentur Reuters ist der brasilianische Eso-Schwadroneur Paulo Coelho einer der drei erfolgreichsten Autoren der Welt. Da fragt man sich natürlich, ob Lesen nicht eine maßlos überschätzte Kulturtechnik ist. Vielleicht trägt Nordic Walking doch mehr zur Herzensbildung bei. Coelhos Bauernfänger-Parabeln werden von internationalen Wirtschaftsmagazinen hochgelobt. Sein erster Streich war ein initiatorischer Pilgergang auf dem alten Jakobsweg nach Santiago di Compostela. In Spanien lernte er, wie erfolgreich ein esoterischer Bummel entlang der literarischen Nullachse sein kann. Seitdem hat er diesen Pfad nie wieder verlassen. Buch für Buch hat er ihn beschritten, mal in Begleitung eines wissensdurstigen andalusischen Hirten, mal in Gesellschaft des wundervollen Propheten Elia oder einer todessehnsüchtigen jungen Slowenin mit grünen Augen - sowieso, Coelho und die Augen. Natürlich sein Vademekum über die tapferen Lichtkrieger nicht zu vergessen. Die Lichtkrieger? Ja, einfach weiterlesen, ist wurscht, ist halt Coelho. In all seinen sogenannten Büchern klingt der Weise vom Zuckerhut mit dem experimentellen Kinnbärtchen ungefähr wie ein Jedi-Ritter, der sich ins Grundstudium Philosophie verirrt hat. Welcher böse Teufel aber reitet diesen Golem im Augenblick? Paartherapie mit kasachischen Steppennomaden.

Esther ist weg. Verkrustungen und Verknorpelungen im Zusammenleben mit ihrem Gatten, einem Autor von spirituellen Bestsellern, haben sie aus dem reichen Pariser Zuhause getrieben. Daraus wird der Autor nun einen spirituellen Bestseller machen. Und das geht so: Esther hat schon immer das Leben gesucht. Deswegen ist sie Kriegskorrespondentin geworden. Denn nur im Angesicht des Todes offenbart sich wahre Lebensenergie. Und die Kraft der Liebe. Auf Recherchereise in Kasachstan hat sie den jungen Epileptiker Mikhail kennengelernt, der bei seinen Anfällen die Stimmen der Großen Mutter der Steppe hört. Oder das Gemurmel des kleinen Hävelmannes, wurscht. Esther hat den Kasachen nach Paris verschifft, wo er in einem aserbaidschanischen Restaurant esoterische Nomadenrituale aus der Steppe zelebriert. Die Pariser sind begeistert. Holländer sind nicht im Spiel. Noch nicht. Mikhail und seine Geheimlehren zeigen Esther, daß ihre Ehe hinüber ist, und sie verschwindet.

Für den Schriftsteller wird die verschwundene Frau zur Obsession. In seinem wurmstichigen Hirnkasterl bläht sich übergroß ihr Bild, ein Phänomen, das die islamischen Mystiker „Zahir“ nennen. Wie die amüsanten Hopi-Indianer dieses Phänomen nennen, erfahren wir leider nicht. Vielleicht in Coelhos nächster Eso-Romanze. Dank der Einweisungen des kasachischen Epileptikers und seiner assistierenden Hävelmann-Souffleure lernt nun auch unser Bestsellerautor, sein Leben zu ändern. Denn pro Coelho-Buch muß mindestens einmal das Leben geändert werden. Vor lauter wieder aufflackernder Lebensfreude zieht der Autor betrunken mit Mikhails weisen Punkerfreunden durch die Stadt, denn sind wir im Herzen nicht alle kasachische Nomaden? Dsching, Dsching, Dschingis Khan, he, Reiter, ho, Reiter!

In seitenlangen Dialogen gibt uns Coelho die sandgestrahlten Glanzstücke zentralasiatischer Weisheit weiter, die uns unter anderem lehren, daß Menschen mit Gesichtspiercing nicht gar so bös sind wie sie aussehen, daß der Pariser Literaturbetrieb die Große Hure Babylon ist, und daß man die internationalen Bestsellerlisten nicht essen kann. Manche müssen sich für solche Erkenntnisse dreihundert Seiten von kasachischen Hävelmännern soufflieren lassen, anderen erhellen sich diese Zusammenhänge im Alter von ungefähr fünfzehn Jahren in einem Satori beim morgendlichen Einbalsamieren der Pubertätsakne. In beiden Fällen ist die Begeisterung über das eigene genialische Ego grenzenlos. Nur verbreitet der eine gute Laune im Schulbus, und der andere verstopft den knapp bemessenen Regalplatz in unseren Buchhandlungen.

Gerne würde man etwas zu Coelhos Stil schreiben. Aber es gibt ihn leider nicht. Dieser synkretistische Knallerbseneintopf ist im ungenießbaren Esolekt von Promo-Flyern für Schwitzhüttenworkshops, Menstruationstrommeln und Power-Yoga nach McKinsey verfaßt. Dazwischen stehen didaktische Erbauungsdialoge, die bei ihrer angestrengten Simulation von sokratischer Mäeutik unerträglich hölzern klappern. Da Coelho weiß, daß sein Selbstfindungsgeblöke sprachlich ungefähr so wohlgeformt wie der Urschrei des ersten Pantoffeltierchens ist, verdammt er Stil ganz generell: „Den meisten Schriftstellern geht es mehr um den Stil als um den Inhalt, sie wollen originell sein, aber schaffen es allenfalls, langweilig zu sein.“ Uns aber hat der globalisierte Erweckungsscirocco geflüstert, daß es im unberechenbaren Schatten einer kasachischen Wanderdüne einen windgegerbten Schriftgelehrten geben soll, der einen interessanten Inhalt mit einem originellen Stil zu verbinden weiß. Was er macht, nennen einige isländische Mystiker Literatur.

Das Einzige, was in diesem Roman von literarischem Interesse ist, ist ein elfzeiliges Zitat des großen argentinischen Autors Jorge Luís Borges. Dieser nun wirklich verehrungswürdige Meister hat so viel Strahlkraft, daß er selbst aus einem alles absorbierenden Schwarzen Loch intergalaktischen Unsinns noch tröstlich herausleuchtet.

Psychologisch ist vielleicht noch interessant, wie sehr Coelho der klaffende Gegensatz zwischen seinem Erfolg auf dem Buchmarkt und seinem Mißerfolg bei der Literaturkritik beschäftigt. Die einzige Möglichkeit, all die Verrisse seiner Erweckungsschmonzetten zu verarbeiten, scheint für ihn darin zu bestehen, schamlos seinen Stolz auf seine Karriere als millionenschwerer Selfmademan des spirituell verbrämten Schundromans zur Schau zu stellen. Seitenlang referiert Coelho in diesem mit dem Autobiographischen kokettierenden Roman über seine Verkaufszahlen und seine Reichtümer und jammert über ignorante Kritiker, die es nicht ertragen, wenn sich jemand aus der Mittelmäßigkeit erhebt. Ziemlich unentspannt und erstaunlich diesseitig für einen brasilo-kasachischen Erleuchteten. Davon abgesehen wäre die Kritik ja schon dankbar, wenn Coelho es wenigstens bis zu literarischer Mittelmäßigkeit hinauf schaffen würde. Zwischen den Zeilen dieses so diesseitigen Romans wird deutlich, daß Coelho nichts anderes als all die anderen Gurus möchte: die schärfsten Frauen und jeden Abend einen Platz im angesagtesten Restaurant.

Durch eine raffinierte Rochade des Weltgeistes erbringt Coelho allerdings doch noch den Beweis für die Präsenz unglaublich intensiver spiritueller Energien. Denn es zeugt schon vom Wirken besonders mächtiger Dämonen, daß dieser Eso-Klon immer wieder mit traumwandlerischer Sicherheit die dümmst mögliche Abzweigung in seinem Plot nimmt. Wo nämlich findet unser Bestsellerautor seine Frau wieder? Logisch, hinter einer singenden Düne in der kasachischen Steppe, das war klar. Vorher muß er allerdings noch einen holländischen Backpacker segnen, so richtig mit brasilianischer Lebenslinie auf niederländischem Mittelscheitel. Danach wird er dann von einem Nomaden gesegnet, so richtig mit kasachischer Lebenslinie auf brasilianischem Mittelscheitel. Aber was macht unsere gute Esther denn nun in Kasachstan? Sie wartet auf ihren Eso-Deppen und webt derweil kasachische Teppiche. Nein! Doch! Teppiche! Wie dem Odysseus seine Penelope. Große Steppenmama, nimm mich an deine Brust und stille meine Tränen.

Wie soll es mit Coelho weitergehen? Was kommt als nächstes? Gürtelrosentherapie mit den heiligen Lianensäften der Pygmäen? Warzenkur mit den Taliban? Bitte, liebe Raelianer, ruft Euren schrecklichen Golem zurück. Wenn Ihr unbedingt spielen wollt, macht uns einen neuen Elvis. Dann wollen wir auch alle unablässig für Euch tanzen. Im Geiste aber werden wir pausenlos jenen schönen Vers über das Verhältnis von spirituellen Meistern zu ihren Jüngern rezitieren, mit dem sich der kaukasische Guru Georg Gurdjew einst in Paris an seine Schüler wandte: „Ihr vollkommen zugeschissen!“ So ist es. Wer dieses ganze verwässerte Tartaren-Hopi-Tuareg-Eskimo-Voodoo-Ratatouille freiwillig schluckt, hat es nicht anders verdient.


Paulo Coelho: Der Zahir. Roman, Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann, Diogenes Verlag, Zürich 2005, 342 Seiten, 21,90 Euro