Stephan Maus

Alban Nikolai Herbst: ‘Buenos Aires. Anderswelt’ (NZZ)

Das Oktopus-Opus. Alban Nikolai Herbsts kybernetischer Roman “Buenos Aires. Anderswelt” (NZZ, 01.11.01)

Der Ex-Broker Hans Erich Deters sitzt im Café „Silberstein“ in Berlin Mitte und wartet auf eine Frau. In dem real existierenden Szene-Laden gibt es experimentell zusammengeschweisste Sitzgelegenheiten, einen importierten Sushi-Koch und einen imaginierten Zugang zu einer phantastischen Gegenwelt: Alban Nikolai Herbsts „Anderswelt.“ Die Schnittstelle zu dieser Parallelwelt hat Deters absorbiert, zellularmagnetisch angesaugt oder aus der Realität katapultiert, die genaue technische Prozedur ist etwas verwirrend. Nun beginnt eine Odyssee durch das Wunderland jenseits des Sushi-Tresens.

Berlin Mitte ist Mittelerde, von diesem Nabel der Welt geht es direkt in das Reich der Fiktion. Gegen die Abwesenheit der geliebten Frau hilft nur die Flucht in Gedankenspiel und Hirngespinst. Kunst und Caipirinha als Triebsublimation. Ist man erst einmal in Anderswelt, tut sich schnell eine neue Galaxie auf und stellt sofort die Nachbargalaxie in Frage: Garrafff. Hier ist alles wieder ganz anders. Garrafff ist Ganzanderswelt. Hans Erich Deters Mutteruniversum ist eine Russische Puppe. Von einer Welt zur nächsten gelangt er durch so genannte „Lappenschleusen“.

Alban Nikolai Herbst hat die drei Fantasy-Welten Berlin, Anderswelt, Garrafff zu einer verschachtelten, komplexen Romangalaxie arrangiert. „Buenos Aires. Anderswelt“ bildet zusammen mit den vorausgegangenen Werken „Thetis. Anderswelt“ (1998), „Wolpertinger oder Das Blau“ (1993) „Die Verwirrung des Gemüts“ (1983) einen weit ausholenden Roman-Zyklus, der auch mit dem neuesten Werk nicht abgeschlossen zu sein scheint. Der ehemalige Stock-Broker Herbst liebt die langfristigen Prosa-Spekulationen. Obwohl seine Romane zu einer gigantischen Komödie der Halbgötter, Halbmenschen, Prosa-Klone und Cyborgs verwoben sind, lässt sich jeder auch einzeln geniessen. Im Anhang von „Buenos Aires. Anderswelt“ erleichtert ein erläuternder „WurmVorsatz“ mit Personen- und Stichwortregister diesen Genuss.

Der Autor hat seinem kybernetischen Roman ein Motto von McKenna vorangestellt: „Unser Schicksal ist das eines Oktopus, / nämlich zu werden, was wir denken, / unsere Gedanken zu unserem Körper zu machen / und unsere Körper zu Gedanken.“ Sinnlos, die verzweigten Irrfahrten von Herbsts Helden durch ihre mythischen Galaxien resümieren zu wollen. Tentakelhaft wächst Herbsts Romanzyklus, das Zentrum franst aus, bläht sich zu immer schillernderen Ausstülpungen, die sich mal verknoten, mal um sich selbst rollen, wirbellos wehend durchschwebt das fantastisch pulsierende Gebilde den in sich gekrümmten Raum der Vorstellung. Herbsts Roman hat die Struktur eines wuchernden Rhizoms, nicht Ödipus-Maschine, sondern textproduzierende Oktopus-Maschine ist diese Anderswelt.

Der Cyberspace ist die Leitmetapher für die Phantasiewelten, die Deters auf seiner kybernetischen Odyssee durchquert. Er stolpert von Link zu Link, die ihn zu immer neuen Ebenen eines vielschichtigen Hypertextes führen, Löcher im Textgewebe, die sich so überraschend vor ihm auftun wie der Fuchsbau vor Lewis Carrols Alice. Gleich einem Helden eines hochentwickelten Computerspiels durchwandert Deters den opulent simulierten Dekor einer zeitgenössischen Utopie. Locker strukturiert Herbst sein verwirrendes Spiel mit unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen mit Hilfe eines Leitmotivs; immer wieder kommt Deters auf seiner Irrfahrt am Café Silberstein vorbei: „Stirnpulsen. Die nässende Blessur. Kondensnebel in TECHNICOLOR.“ Doch schnell verliert sich der Held wieder im Nebel der Fiktion, zwischen den Versatzstücken der Populärkultur in Technicolor.

Herbst entwirft ein futuristisch und polychrom schillerndes Metropolis und arbeitet mit zahllosen Anleihen aus Science-Fiction-Filmen. Er hat die Video-Games aller Spielhallen miteinander kurzgeschlossen und leitet ihre Bilder, Ikonen und Erzählmuster in seinen funkensprühenden Text. Zwei Reisebücher über Sizilien und New York hat Alban Nikolai Herbst neben seinen Prosawerken noch veröffentlicht. In „Buenos Aires. Anderswelt“ ist er der Marco Polo der Utopie. Sein Reisebericht ist ein apokalyptisches Szenario ganz in der Tradition des Cyberpunks. Wie bei William Gibson oder Neal Stephenson vermischt sich hier High-Tech-Dekor mit archaischen Mythen. Die Strassenzüge der Anderswelt erinnern an „Blade Runner“, die Bürogebäude an „Brazil“, die graffitibesprühten Stahlrollos an John Carpenters „Klapperschlange“, die holprigen Landstrassen, das staubige Niemandsland und die verschwitzten Desperados kennt man aus „Mad Max“. Es ist, als hätte ein leistungsstarker Supercomputer alle Mythen der modernen Trivialkultur collagiert, alle Motive der Kolportage zusammengerechnet und die Summe in die grosse Anderswelt-Datei gegossen. Hans Erich Deters durchschreitet die konzentrischen Kreise sämtlicher Spielhöllen.

Die Hauptstadt der Anderswelt ist Buenos Aires, ein Hybrid aus Puzzleteilen aller grossen Metropolen der Welt. Welcome to SimCity 3.1. Die biomorphen Traumarchitekturen in Buenos Aires feiern das Prinzip organischer Selbstorganisation und spiegeln damit die Poetik des Romans wider, der einer Ästhetik des Wucherns gehorcht. Die Metropolenarchitektur in Anderswelt ist gefrorene Poetik. Herbst bezieht noch einmal innovative Kraft aus dem monumentalen Grossstadtroman, der die Avantgarde von Joyce über Belyi bis hin zu Döblin und Dos Passos zu formalen Wagnissen inspiriert hat. In der experimentierfreudigen Anderswelt regiert das Gesetz der Auflösung aller Formen. Der Text selbst ist ein barockes Monster, das verschiedenste Genres miteinander kombiniert. In den Zeiten der Simulation verschwinden auch die Grenzen der Identität. Herbst gibt sich leidenschaftlich dem postmodernen Spiel mit dem künstlichen Status der Protagonisten hin. Immer wieder reckt der Autor seinen kahlen Kopf in seinen Text. Die moderne Erzählung ist befallen vom Virus der Selbstreferenz. Der Roman ist ein rekursiver Algorithmus. Die Figuren sind nur Avatare in einem globalen Rollenspiel, auf der Suche nach ihrem Original. Alles ist Simulation, die Liebe wird zur digitalen Neuromanze, der Text zum Chatroom, in dem ein virtueller Maskenball gefeiert wird: „Hans Deters betritt den Raum.“ Mit solchen Sätzen wird in den Chat-Foren ein neuer Teilnehmer angekündigt. Gucken die Protagonisten morgens in den Spiegel, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie nur ihre eigene Sicherheitskopie sehen. Niemand weiss, was in seinem Quellcode steht. Das wahre Ich schlummert in einer unzugänglichen Archivdatei eines monomanischen Schöpfers. Ich ist ein Netzwerk.

Auch hier nimmt Herbst wieder einen verbreiteten Topos des Science-Fiction-Genres auf: wie in Philipp K. Dicks „Blade Runner“ ist die Grenze zwischen Original und Kopie nur noch so schmal wie eine Rasierklinge. Deters fühlt sich gefangen in der Matrix und wird schliesslich ausgelöscht durch ein Double des Autors Alban Nikolai Herbst, der ein Avatar seiner selbst in den Roman kopiert hat. In der virtuellsten aller möglichen Welten bewegt man sich einfach via Drag-and-Drop von einer Hierarchie zur anderen. Neben einer grossen Liebe für die Erzählcodes und die Motive der Trivialkultur verfügt das Original Herbst über einige der spürbar leistungsstärksten Sprachmodule und Stilchips auf dem neuen deutschen Prosamarkt. Dabei erinnert sein archaisch getakteter Tonfall immer wieder an Wolf von Niebelschütz grandioses Epos „Die Kinder der Finsternis“, eine weitere Anderswelt, die im mythischen Südfrankreich der Troubadoure angesiedelt ist.

In Herbsts Anderswelt ist einzig der Poet und Terror-Troubadour Achilles Borkenbrod, genannt Chill oder auch Aissa der Barde ein Original und nährt sich von der traditionellen Kraftnahrung für Barden: „Three things that enrich the poet / Myths, poetic power, a store of ancient verse.“ Dies ist das poetische Credo des Romans. Seine lyrischen Echtheitszertifikate sprüht der Barde an die Häuserwände. Er ist Graffiti-Terrorist und macht bunt was ihm zu bunt wird. Am Ende findet sogar der böse Polizei-Chef seine Wahrheit nur beim Barden. Der Super-Cop verfügt über die ausgetüfteltsten Informationstechniken, doch die Wahrheit über sich selbst erfährt er nur vom Poeten. Dieses sehr romantische Selbstverständnis des Autors schimmert durch den Text. Der Ex-Broker schickt seine poetische Kreatur auf eine etwas pathetische Suche nach dem Strand unter den Pflastersteinen.

Doch was in der Anderswelt wohl wirklich zählt, ist die fröhliche Collage von Fragmenten aus U- und E-Kultur, aus antiken und trivialen Mythen. So orientiert sich Deters in den holographischen Labyrinthen mit Hilfe eines klassischen Ariadnefadens. Die antike Mythologie ist der Quelltext der virtuellen Odyssee. Man kann sich nun als Spielverderber gerieren und Herbsts hybriden, polymorphen Prosa-Leviathan als unverbindliches, postmodernes Mätzchen abtun, das noch einmal die abgegriffenen Gedankenbausteine Simulation, Rhizom, Cyber-Zauber und Metafiktion zusammensetzt.

Man kann aber auch einfach die virtuose Spielfreude des Autors geniessen, den originellen Faltenwurf seines preziös-präzisen Stils bewundern, sich in einer Utopie voller Witz und liebevoller Science-Fiction-Details verlieren und begeistert bei seinem fantastischen Rollenspiel mitspielen. Für Liebhaber des Fantasy-Genres ist „Buenos Aires. Anderswelt“ ein absolutes Muss, denn vergleichbar Raffiniertes gibt es im deutschen Sprachraum nicht. Herbsts einzigartigen Platz in der Gegenwartsliteratur könnte man mit einem Zitat des holländischen Architekten Winy Maas vom Büro MVRDV beschreiben: „Ohne Science-Fiction kommen wir hier nicht raus aus dieser Nostalgie-Brühe.“

An der gemeinsamen Wohnungstür der Prosa-Avatare Hans Erich Deters und Alban Nikolai Herbst steht wie an den Milchglasscheiben in den Bürotüren der alten Detektiv-Klassiker ein Namensschild mit Berufsbezeichnung: Deters & Herbst, Fiktionalisten. Gegen Ende des Romans legt Herbsts Autoren-Double seinen Protagonisten Hans Erich Deters in einer Archiv-Datei ab: „Ob er etwas empfindet in seiner Archiv-Datei?“ Hoffentlich macht er es sich bequem zwischen Bits und Bytes und wird schon bald wieder durch einen kraftvollen Doppelklick zum Leben erweckt. Denn der Fiktionalist Alban Nikolai Herbst ist ein faszinierender Lappenschleusenwärter. Man kann nur jedem empfehlen, um Einlass zu bitten.


Alban Nikolai Herbst: Buenos Aires. Anderswelt, Kybernetischer Roman. Berlin Verlag, Berlin 2001, ca. 271 S., Fr. XX,YY