Stephan Maus

200 Jahre Balzac (Hessischer Rundfunk)

Eine Würdigung (Hessischer Rundfunk, 02.06.99)

Im 19. Jahrhundert erobern die Emporkömmlinge aus der Provinz Paris wie eine Festung, ihren Hirnschwamm getränkt mit Ehrgeiz, Willen zur Macht, Lebenshunger, Vergnügungs- und Ruhmessucht. Die von ihnen anvisierten Frauen leben hauptberuflich in Boudoirs oder Salons, sind nebenberuflich auf Diwane, Causeusen oder Ottomanen gefläzte Mätressen, beziehen Grundrenten aus ihren Anwesen in der Provinz und sponsern junge Literaten.

So kauft der aus Tours stammende Honoré de Blazac in seiner biographischen Ouvertüre erst mal von dem Geld einer Pariser Gönnerin eine Druckerei und führt sie zielstrebig in den Bankrott. Ebenso eine Silbermine. Somit wären die Themen „fortschreitende Industriealisierung“, „Finanzmanipulationen“ und „Goldrausch“ abgehakt. Von nun an wird Balzac die Druckpressen der anderen füttern. Hochverschuldet schreibt er Liebes- und Schauerromane unter verschiedenen Pseudonymen. Er wird immer vertrauter mit den Erzähltechniken des Kolportage-Romans, entwickelt sich zum Meister der Dramaturgie. Hier entsteht das Berufsbild freier Autor, und Balzac liefert Gesellenstücke eines Spannungshandwerkers.

Mit 30 zeichnet er zum ersten Mal ein Werk mit seinem für diese Gelegenheit in den Adelsstand gehobenen Namen: „Die Chouans“. Balzac arbeitet nun methodisch: er geht früh zu Bett, läßt sich von seinem Faktotum um 1 Uhr morgens wecken, trinkt literweise Kaffee und schreibt bis um 8 Uhr in der Frühe. Nacht um Nacht dreht sich das Romankarussell in seinem Kopf und scheuert dem Write-Aholic die Hirnhaut wund, die sich bald entzündet. Balzac bezeichnet sich selbst als „fröhliche Wildsau“ und attackiert sein Leben frontal und mit pantagruelischem Appetit: Koffein, Essen, rauschhaftes Schreiben. Man stellt ihn sich vor, wie er mit Adler- oder Geierfedern schreibt, diese Gänsekiele brechen mir zu schnell! Er ist maßlos, nur nicht in der Liebe. Nach seinen ersten Veröffentlichungen schreibt ihm die polnische Adelige Evelyn Hanska anonym. Sie unterzeichnet nur mit „Die Fremde“ und gibt seiner Biographie endgültig einen romanesken Drive. 17 Jahre lang schreibt sich das Paar, Balzac träumt vom Geld der Grande Dame, und als man endlich die Strecke Paris-Warschau mit der Korrespondenz pflastern kann - vier in-Folio-Bände - heiraten beide. Balzac stirbt 5 Monate später, im August 1850, nachdem ihn Victor Hugo am Krankenbett besucht hat. Vollgefressen, leergeschrieben & tot.

Mit 35 entdeckt Balzac sein „episches System“. Er läßt seine Personen von Roman zu Roman immer wieder auftauchen und schreibt ihre Geschichte fort. Gute Zeiten, schlechte Zeiten, Grandeur et Décadence, perspektivisch unterschiedlich ausgeleuchtet. Seiner Schwester schreibt er: „Lobpreisen Sie mich … denn ich bin schlichtweg dabei, ein Genie zu werden.“ Die einzelnen Werke verknüpfen sich zu einer erzählerischen Galaxie von „epischen Personen“, wie er sie nennt, und so entsteht seine „Menschliche Komödie“, die im Gegensatz zu Dantes „Göttlicher Komödie“ so fest im Diesseits angesiedelt ist, „wie die Auster auf ihrem Felsen“. Wie die Auster wohlgemerkt, nicht etwa wie die vulgäre Miesmuschel, garçon, encore une douzaine, s´il vous plaît!

Im Vorwort zu dem Zyklus von 90 Bänden kündigt Balzac an, die sozialen Spezies im Lichte der Wissenschaft studieren zu wollen, um induktiv Verhaltensregeln ableiten zu können. Er beruft sich auf Leibnitz, Buffon, Cuvier, Geoffroy Saint-Hilaire - und auf den Mystiker Swedenborg für die Engel. Damit nicht alles heillos durcheinandergeht, blinken die Leuchtfeuer Katholizismus & Monarchie. „Die französische Gesellschaft sollte der Geschichtsschreiber sein; ich selbst lediglich der Sekretär.“ So entsteht die Chronik eines Privatstaates von 2000 Personen - über 400 davon in epischen Führungspositionen -, die Sittengeschichte einer Gesellschaft, die von der allmächtigen 100-Sous-Münze regiert wird. Bei Balzac löst das Geld die Liebe als epische Antriebsfeder ab.

Das konnte Marx & Engels inc. nur gefallen. Sie behaupteten, in keinem Werk von Historikern, Ökonomen oder Statistikern so viel über die Gesellschaft gelernt zu haben wie bei Balzac. Der wird bald zum Taufpaten des bürgerlich kritischen Realismus, der in seinem speziellen Falle ein „kritisches Gesamtbild der nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft der Restauration und der Julimonarchie vermittelt“, wie sich mein sowjetisch besatztes Vorwende-Lexikon fahnenschwenkend freut. Und wenn der vom Leibhaftigen und seiner zeternden Gefolgschaft besatzte Reich-Ranicki und mit ihm ein Großteil der großdeutschen Criticaille heute die epische Aufarbeitung der Nachwende-Gesellschaft und ihres Zustandes einklagen, dann liegen sie mit Balzac und der Literatur-Doxa der SED erstaunlich gleichgeschaltet auf einer Linie. Der Weltgeist war schon für manch einen Gag zu haben.

Die Frage, ob Balzac nun Reaktionär oder Revolutionär, faktenfaktenfaktenhungriger Realist oder doch eher alchimistischer Schwarzmagier war, ist in Frankreichs Schulen ein ebenso gefürchtetes Prüfungsthema wie die Interpretation seiner seitenlangen Beschreibungen. Zu seinem Realismus hat sich Balzac selbst am überraschendsten geäußert: „Woher, bitteschön, soll ich die Zeit zum Beobachten nehmen, ich habe kaum Zeit zum Schreiben!“

Neben seinen sozialen Fresken finden sich auch phantastische Kuriositäten wie z.B. „Leidenschaft in der Wüste“, die Erzählung einer Liebe zwischen einem Panther und einem Soldaten. Aus einer solchen Liaison gehen sicher ganz neue militärische Strategien hervor, geschmeidigere Attacken, samtschwarz schimmernde Nachtangriffe.

Schreiben konnte Balzac leider nicht. Oder zum Glück. Seine Bücher sind ein genialisch-monumentaler Klappentext zum Pulp des Lebens. Hier wölben sich uns ornamental gekräuselte Frauenstirnen entgegen wie Bäuche antiker Vasen, in denen in abgestandenem, veralgtem Wasser die Blumen der Schwermut langsam verwelken, schubiduh. Wenn Balzac im nächtlichen Koffeinrausch richtig aufdreht, entwickeln seine besten Passagen eine dadaistische Poesie des schlechten Geschmacks. Die Kolportage hat ihre Spuren hinterlassen. Männer fordern auf der Pariser Schädelstatt Père Lachaise die zu ihren Füßen liegende Metropole zum Duell, brüllen gegen tobende Ozeane an oder pflücken den vergötterten Frauen Blumensträuße, die nicht mal ein Michael „Air“ Jordan umfassen könnte; - die Frauen aber verröcheln bluthustend vor Scham in der stickigen Luft des Krankenzimmers, während im wurmstichig-knarrenden Flur die unehelichen Kinder weinen.

200 Jahre Balzac. Noch nie war er so verstaubt wie heute. In einer Zeit, in der Derrick, Blümchentapeten, Jedi-Ritter und Monoplattenspieler der Nec-Plus-Ultra-Hype sind, ist das eine einmalige Chance. Joyeux anniversaire, Honoré.