Stephan Maus

Raymond Chandler: ‘The Big Sleep’ (Einführung in die SZ-Krimi-Bibliothek)

Die Große Fuge des Kriminalromans: “The Big Sleep” von Raymond Chandler (Einführung zu Band 24 der SZ-Kriminalbibliothek)

Auf den ersten Blick erscheinen Raymond Chandler und sein Held Philip Marlowe als verdammte Profis. Bevor Chandler mit „The Big Sleep“ seinen ersten Roman schrieb, erlernte er als Full-time Writer von Kurzgeschichten für das legendäre Pulp Magazine „The Black Mask“ das harte Handwerk der Genre-Literatur. Nach sechs Jahren hinter der schwarzen Maske kannte er jeden Kniff des Metiers und war mit Plot Point und Cliff Hanger so vertraut wie Phil Marlowe mit allen Raffinessen der Mobster. Chandlers und Marlowes Tagessatz dürften gleich hoch gewesen sein: 25 $ pro Tag plus Spesen.

Sein Leben lang wird Chandler von seinem „Groschengeschreibsel“ zehren, indem er seine Dime-Stories ausschlachtet. In „The Big Sleep“ verschmilzt er seine drei Short Stories „Killer in the Rain“, „The Curtain“ und „Finger Man“ zu einem Roman aus einem Guß, aus dem eine mythische Gestalt hervortritt: Philip Marlowe ist der Prototyp des Private Eye. Und er ist der Archetyp des Private I, einer der erfolgreichsten investigativen und narrativen Ich-AGs. Erzählhaltung und Weltsicht dieses altmodischen Ritters in einer dekadenten Industriegesellschaft wurden stilprägend für die amerikanische Nachkriegs- und Postdepressionsära. Seit mehr als einem halben Jahrhundert füttert Marlowe unseren Traum von der kompromißlosen Freiheit des Individuums.

Charakteristisch für Chandlers Roman ist nicht so sehr die berühmte Lakonik – die findet sich eher in Howard Hawks schnörkelloser Hollywood-Adaptation. Bei aller Kaltschnäuzigkeit seines mythischen Helden ist Chandler eigentlich Manierist. Seine Sätze schulden der klassischen Rhetorik mehr als dem Gangster-Argot. Auch der Plot um den Wertezerfall in einer Familie heißblütiger Ölmillionäre ist so kurvig wie die gewundenen Straßen, die hinauf zu den Verbrechervillen in den Hollywoodhügeln führen. Die Handlung ist nur deshalb so serpentinengleich, um immer wieder atmosphärisch dichte Ausblicke auf die Verdorbenheit der Gesellschaft zu bieten. Chandler ist ein begnadeter Kulissenschieber, und weil Hollywood ihm so viel schuldet, knattert beim Leser gleich beim ersten Satz das Privatkino los. Chandlers Vergleiche sind von verspielter Extravaganz, die einen Großteil der Leserfreude ausmachen. Im Gegensatz zu den staubtrockenen Romanen des von ihm so verehrten Dashiell Hammett sind Chandlers Krimis voller Arabesken. Seine Kunst besteht in der meisterhaften Variation der immer gleichen Genre-Motive. „The Big Sleep“ ist die Große Fuge des Kriminalromans.

Chandlers Romane sind Verwandlungsmaschinen des Detektivgenres. Er fügt Topoi und Tropen des Pulp neu zusammen, verziert und moduliert sie, bis schließlich ein ebenso prachtvolles und präzis kalkuliertes Kunstwerk entsteht wie jenes Parkett aus „The Big Sleep“: „Das Parkett war aus einem Dutzend verschiedener Harthölzer gefertigt, von burmesischem Teak über ein halbes Dutzend Schattierungen von Eichen- und Rotholz, das wie Mahagoni aussah, bis hin zum harten, hellen, wilden Fliederholz der kalifornischen Berge – all dies wie mit der Exaktheit des Theodoliten zusammengefügt zu kunstvollen Muster.“ Schablonen und Gesten der Genre-Literatur fordern Chandler immer wieder dazu heraus, sie in brillant verspielten Volten zu überhöhen. Daher all seine schillernden Vergleiche für Blondinenknie und Leberhaken. Daher all die überdrehten Plotkonstruktionen, die durch eine Überdosis Handlung die Mechanismen des klassischen Whodunnit zur Implosion bringen.

Gleich bei seinem ersten Auftritt verhält sich der hartgesottene Detektiv höchst unprofessionell: Obwohl sein Job schon bald erledigt ist, ermittelt er auf eigene Faust weiter. Die Wahrheit gerät diesem romantischen Ritter zum Gral. Genau wie Marlowe etwas Gerechtigkeit in die Welt bringen will, so ist es Chandlers Ehrgeiz, das „Groschengeschreibsel“ in die Sphäre der Kunst überführen. Wie Marlowe setzt er mehr auf Hirn statt auf Wumme: Der lyrische Schluß von „The Big Sleep“ ist nicht einen Dime billiger als der von James Joyces Kurzgeschichte „The Dead“. Verdammt unprofessionell für einen ursprünglichen Autor von Dime Novels mit einem Tagessatz von 25 $ pro Tag plus Spesen.