Stephan Maus

Patricia Duncker: ‘Sieben Geschichten von Sex und Tod’ (SZ)

Der Killer kam als Goldregen - Patricia Duncker dekonstruiert den Olymp: “Sieben Geschichten von Sex und Tod” (SZ, 26.09.05)

Sieben Mal Eros und Thanatos verspricht Patricia Duncker, und gleich die erste ihrer Erzählungen ist ein Meisterstück der gebildeten, raffinierten, intertextuell bestens abgepolsterten Erzählkunst.

Die Professorengattin Sem begleitet ihren Mann zu einer Ausgrabung nach Griechenland. Während der Archäologieprofessor Macmillan seine Ruinen freilegt, fühlt sich Sem von einem Fremden beobachtet. Dieser Fremde bleibt unsichtbar, doch seine Präsenz ist gewiß. Der Professor feudelt mehr über seine alten Gemäuer, als daß er sich seiner Gattin widmet, und so aalt sich Sem immer genießerischer im gefährlichen Grenzland zwischen Exhibitionismus und Voyeurismus.

Sems Bereitschaft zu diesem erotischen Abenteuer verwundert, denn sie ist nicht unbelastet. Ihre beste Freundin und ehemalige Geliebte Lindsay wurde vor Jahren Opfer eines brutal mordenden Voyeurs. Und nicht nur Lindsay. Auch deren Geliebte, die Investment-Bankerin Helena, wurde Opfer eines Lustmörders. Er hat die Anlageberaterin mit Goldstücken farciert. Der Täter scheint ein grausames Muster zu verfolgen. Und nun hat er Sem im Visier. Sem genießt es. Als Professor Macmillan endlich seinen größten wissenschaftlichen Coup landet und unter dem griechischen Geröll einen alten Zeus-Tempel freilegt, wird ein Motorradbote bei Sem vorstellig: „Ich habe eine Nachricht für Sie vom Boss. Er sagt, er will Sie sehen. Machen Sie sich fertig. Ich komme wieder.“ Und den aufmerksame Leser schaudert’s: Der schreckliche Lustmörder ist natürlich Zeus persönlich. Wer könnte da widerstehen. Sem jedenfalls nicht. Sie wird auf die Harley des sexy Hermes steigen, den man hier als den jungen Marlon Brando in der Rolle eines Hell’s Angels vor sich sieht.

Mit wunderbar kühler Präzision überblendet Duncker in dieser Erzählung die antiken Mythen mit den modernen Mythen der Massenunterhaltung. Die Figur des Zeus als zeitgenössischer Serienkiller leuchtet sofort ein. Der Killer kam als Goldregen! Der Archäologe rückt dem Gott auf die Pelle, Zeus aber revanchiert sich für diesen Hausfriedensbruch mit Lustmord an der Professorengattin. So kennen wir sie, die griechischen Götter. Es ist besonders listig, dieses Sujet zu einem brillanten Stück Gender-Literatur zu verarbeiten. Kann es eine anspruchsvollere Übung für Feministinnen geben, als gleich den ganzen Olymp zu dekonstruieren? Dunckers Text ist handwerklich perfekt, läßt die griechische Küste poetisch unter der mediterranen Sonne flirren und baut in luftig trabendem Rhythmus gekonnt seine Thrillerspannung auf. Legt man vorsichtig seine Fundamente frei, schimmert ein reicher Sub-, ja sogar Intertext unter der makellos polierten Oberfläche hindurch. Bis in die Nebensätze hinein sind Form und Inhalt sorgfältig miteinander verzahnt.

Eine beiläufige Beschreibung einer Gardine spiegelt en passant die Ästhetik des ganzen Textes wider: „Eine leichte Brise vom Meer bauscht die weißen Vorhänge: zarte Industriespitze, maschinell verarbeitet, die verschlungenen Windungen eines Mannes, der eine Frau verfolgt, Satyr und Nymphe, seine Bocksbeine, elegant und grotesk, ihr aufreizender Blick über die Schulter.“ Diese Industriespitze zeigt Ovid im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Dies ist die ästhetische Klammer, die nach Dunckers eigenem Bekunden ihre sieben Erzählungen zusammenhalten soll. Sie hat sich vorgenommen, den Metamorphosen von Eros und Thanatos in der industriellen Mythenproduktion nachzuspüren. In ihrem Vorwort schreibt sie: „Die Sieben Geschichten waren ursprünglich als eine literarische Antwort auf die B-Movies im französischen Fernsehen gedacht, die ich mir spätabends gerne ansehe.“

Spannend wie ein Mitternachts-Thriller ist die elegante Adaptation von Ovids „Metamorphosen“ in der ersten Erzählung, ein perfektes Nachtsstück, und der Leser freut sich auf die folgenden sechs Geschichten von Sex und Tod. Doch die handeln vor allem vom langsamen, aber sicheren Tod von Dunckers Erzählkunst. Die zweite Erzählung ist noch eine einigermaßen interessante Killerfantasie über eine Gender-Lara Croft in einem Science-Fiction-Dekor à la „Blade Runner“. Aber schon die Abenteuer dieses Riot-Girls sind nicht viel mehr als die Fortführung des B-Genres mit literarischen Mitteln. Das liest sich, als würde Judith Butler jetzt auch Video-Spiele programmieren. Ab der dritten Geschichte gönnt Duncker dem Leser nicht einmal mehr diesen Spaß, und es ist einfach nur noch öde. Schuld daran ist wie so oft Südfrankreich.

Seit Peter Mayles Bestseller „Mein Jahr in der Provence“ versilbern die Briten ihre letzte tasse de thé und suchen sich ihr neues Home & Castle an einer Ausfahrt der Autoroute du Soleil. Und der alphabetisierte Teil dieser lavendelbenebelten expatriés muß dann zwanghaft über maquis, garrigue, moustiques, Freud und Leid der Dorfgemeinschaft, die Textur von Ziegenkäs’ und huile d’olive und das lakritzerne Glück des Pastisrausches beim leisen Klicken der Boule-Kugeln fabulieren. Am besten mit mindestens einer kursiven Zeile Originalfranzösisch pro Absatz, désir de frime oblige.

Ab der dritten Erzählung macht sich Duncker des Titelbetruges schuldig. Denn nun geht es leider nicht mehr um so spannende Sachen wie Sex und Tod, sondern nur noch um Kalauer und Klamauk. Eros und Thanatos kann Duncker, Komik eher nicht. Man liest nur noch die konventionellen Fingerübungen einer Creative Writing-Lehrkraft in der Sommerfrische. Gegen Ende gleitet Duncker in penetranteste Louis de Funès-Albereien ab. Duncker mißbraucht ihre erprobte handwerkliche Meisterschaft dazu, schalste Satiren über die ulkige französische Streiklust, den praktischen gallischen Ehebruch und die unverbrüchliche Lebenslust der sympathischen Schnauzbartträger mit dem knusprigen Baguette in der Achselhöhle zu produzieren.

So kommt man sehr bald zu dem Schluß, die Autorin habe für diesen Erzählband einfach mal unverbindlich ihre provençalische Olivenholzschublade ausgeleert. Drin fanden sich ein große Los und sechs Nieten. Das kann auch das vollmundige Vorwort nicht verbergen. Überhaupt! Autorenvorworte! Warum verbieten Lektoren ihren Schriftstellern eigentlich nicht prinzipiell, ihre eigenen Texte zu rezensieren? Das ist unser Job! Gibt es etwas Verblaseneres, als eine Autorin, die in ihrem Vorwort schreibt: „Selbst ich hätte mir nie träumen lassen, daß das Thema häusliche Gewalt auch witzig sein kann – bis ich ‚Meine Betonung’ schrieb“? Selbst ich hätte mir nicht träumen lassen, daß Literaturkritik auch ein überwältigendes Zeugnis genialischen Schöpfergeistes sein kann – bis ich diese Rezension hier schrieb.

Das enttäuschend singuläre Meisterstück dieses Erzählbandes kann man auch auf Englisch in der Anthologie „New Writing 8“ von Tibor Fischer und Lawrence Norfolk lesen. Es wäre einen Versuch wert, denn dort hat man noch die Chance, weitere Juwelen der Erzählkunst zu entdecken. In dem vorliegenden Band leider nicht. Hätte Duncker ihre Story-Sammlung nicht als wohlfeile Möglichkeit zur literarischen Resteverwertung betrachtet, hätte sie ihr angekündigtes Programm der intelligenten Variationen auf triviale Erzählmuster wirklich ernst genommen, dann hätte man wohl einen außerordentlichen Erzählungsband lesen dürfen. Doch so dekonstruiert Duncker leider nicht nur den Olymp, sondern auch sich selbst. Das ist die Rache des Zeus. Der Boß läßt sich eben nicht ungestraft als Lustmörder verunglimpfen.


Patricia Duncker: “Sieben Geschichten von Sex und Tod.” Erzählungen, Aus dem Englischen von Barbara Schaden, Berlin Verlag, Berlin 2005, 272 S., 19,80 Euro