Stephan Maus

A.L. Kennedy: ‘Paradies’ (FR)

Im Paradies der weißen Mäuse - A. L. Kennedy schildert die Trinkerhölle: “Paradies” (FR-Buchemessenbeilage, 19.10.05)

Das Paradies ist das Vorzimmer zur Hölle. Hier verteilen freundliche Unisex-Engel mit aufmunterndem Barkeeper-Lächeln Erfrischungstücher, die nachher im Ewigen Feuer kurz zischen und einen flüchtigen Duft von Zitrone und Alkohol - ah, Alkohol! – verströmen werden, bevor einem der Geruch von Schwefel den Nasenkanal hochfahren und am Hirnsaum nagen wird, bis in alle Ewigkeit, amen.

Hannah Luckraft ist siebenunddreißig, und die Welt gefällt ihr nicht. Dabei hat ihr die Welt eigentlich gar nichts getan. Hannah ist intelligent, kommt aus einer freundlichen Familie und findet sogar Jobs und Liebhaber. Es gibt Fälle, in denen die Welt grimmiger mit ihren Bewohnern umspringt. Gut, Hannahs Vater zieht sich seit jeher zu Grübeleien in ein gläsernes Gartenhaus zurück. Gut, das Gartenhaus ist voller Kakteen. Gut, manchmal bläst Hannahs Vater einen Luftmatratze auf, um sich zwischen den Sukkulenten einem dornenbedrohten Schlaf hinzugeben. Aber noch lange kein Grund, seit frühester Jugend zur Flasche zu greifen. Aber genau das macht Hannah. Einfach so. Sie leidet an einem fatalen Je-ne-sais-quoi, dem unvergänglichen Bovarysmus. Die Welt ist zu klein für ihr hungriges Herz. Sie verspürt den Kummer all jener, die immer von einem Leben als Pirat oder Goldgräber geträumt haben und bald merken, daß es keinen Sinn macht, diese Begriffe in die Suchmaske des Computers im heimischen Job-Center einzugeben. Also arbeitet Hannah als Handelsvertreterin für Pappkörbe und sucht ihr flüssiges Gold in der Flasche Lagavulin, schließlich sind wir in Schottland.

Zum Glück greift A. L. Kennedy in ihrem neuen Roman nicht auf die handliche Flachmann-Psychologie der meisten Trinkerbücher zurück, um die Alkoholsucht ihrer Heldin zu ergründen. Hannah trinkt einfach nur, weil der Rausch schlicht das Beste ist, was die blöde Welt ihr zu bieten hat. Nur die Liebe könnte eventuell noch mithalten. Allerdings hockt Amor meist zwischen den Gin- und Amarettoflaschen im Getränkeregal von Hannahs Lieblingspub und feuert seine whiskeygetränkten Pfeile blind in Richtung Tresen ab. Also verliebt sich Hannah in den alkoholabhängigen Zahnarzt Robert Gardener. Und was gibt es Herrlicheres, als eine große, nimmer enden wollende Zechtour zu zweit mit gelegentlichen Stop-Overs in wechselnden Nids d’Amour? Wenn der Rausch nachläßt, braucht man nur für eine halbe Stunde einen dumpfen Teleshopping-Kanal anzuschauen, und schon hat man wieder einen Grund mehr, gemeinsam eine Flasche aufzumachen. Robert, hol doch mal die Zahnputzbecher aus dem Badezimmer.

Raffiniert schildert A. L. Kennedy den Teufelskreis der Sucht in zirkulären Strukturen. Zu den besten Passagen dieses Romans gehören die ersten fünfzig Seiten, eine brillante Ouvertüre, in der Hannah sich in einem Flughafenhotel wiederfindet und mühsam versucht, die Orientierung wiederzuerlangen. Wie ist sie dort gelandet? Was hat sie in der vergangenen Nacht gemacht? Hat sie etwa mit diesem viel zu häßlichen, viel zu zerrupften, viel zu zutraulichen Mann dort am Frühstücksbüffet geschlafen? Dessen Kinder sie so seltsam vertraut anschauen. Und warum ist der Schlüsselanhänger des Hotels so unvorstellbar häßlich? Kennedy erhebt den farblosen Transitraum des Flughafens zur Metapher für Hannahs Leben selbst. Meisterhaft setzt sie die verschwommene, kopfschmerzverzerrte Perspektive ihrer Erzählerin ein, um ihren Romans wie einen existentiellen Krimi beginnen zu lassen: Ein beschädigtes Ich sucht seine Position in der Welt, die nichts aufweist, was einen heimisch werden lassen könnte. Zusammen mit der Erzählerin entdeckt der Leser eine Hauptfigur. Bei aller Orientierungslosigkeit verliert Hannah niemals ihren schwarzen Humor. Sie ist hellsichtig genug, zu wissen, daß jedes noch so gleißende Säuferglück vom gnadenlos schwarzen Loch des Filmrisses verschluckt wird. Was bleibt, ist ein höllischer Kater, und den vertreibt man am besten mit einem Schluck Bushmills.

In der Mitte und am Ende des Romans wird sich Hannah wieder in den bleichen Transiträumen des Flughafenhotels wiederfinden: „Vorsichtig schaue ich zum Fenster und sehe eine englische Nacht, eine Schar undurchschaubarer Leuchtfeuer, beleuchtete Gebäude und eine Radarschüssel, die sich im Kreise dreht und den Schatten durchlöffelt.“ Es ist erstaunlich, aber Kennedy hält dieses sprachliche Niveau über knapp vierhundert Seiten. Auch Hannah dreht sich im Kreise, stochert in ihren Schatten, kann die Positionslampen nicht dechiffrieren. Die Struktur des Romans spiegelt die Struktur der Sucht wider. Egal, was Hannah macht, egal, zu welchen inspirierten Höhenflügen sie sich aufschwingt, sie wird immer wieder im Niemandsland des Filmrisses landen. Und weil Kennedy ihren Roman wie ein Persönlichkeits-Krimi begonnen hat, hält sie noch eine Überraschung hinsichtlich Robert Gardeners Identität bereit. So wirft die Realität immer wieder eine neue Maske ab, bis es Hannah schließlich schwindelig wird und sie zwar keine weißen Mäuse, aber dafür schwarze Spinnen sieht.

Niemals würde Hannah weiße Mäuse sehen. Viel zu vulgär. Hannah ist eine hochinspirierte Säuferin. Und hier erst beginnt A. L. Kennedys wahre Kunst. Denn das ist das Teuflische an der Trunksucht: Im Moment des Rausches schillert die sonst so blasse Welt in den verführerischsten Farben. Und die Erzählerin Hannah beschwört überzeugend die irisierende Strahlkraft des geschmolzenen Bernsteins in der Whiskeyflasche, das behagliche Knarren der Clubsessel in den Hotelbars und die Schwarze Trinkkunst des Alkoholikers: „Für einen gepflegten Abend braucht man vor allem ein gutes Gespür für die Zusammenstellung: Wann man gleichmäßig mit einem Lagavulin, einem Longrow, einem Balvenie aufsteigen muß, wann man überzeugenden Gehalt braucht, wann man nur das Level hält, sagen wir, mit einem Merlot, und wann man etwas Exotisches riskieren kann.“

Hannah ist eine Meisterin des Alkohol- und Sprachrausches. Selbst dem Filmriß vermag sie noch eine verborgene Poesie zu entlocken. Mag sie noch so betrunken sein, niemals läßt sie sich gehen. Wenigstens nicht sprachlich. Sexuell schon eher, wobei die erotischen Passagen dieses Romans sehr an die Aufnahmen der amerikanischen Fotografin Nan Goldin erinnern.

Kennedys Text kippt nicht ein einziges Mal in pathetische Trinker-Melancholie. Hannah ist eine analytische Säuferin, die ihren schillernden Rausch und das darauf folgende Kater-Elend mit kühlem Sarkasmus und glänzender Poesie schildert. Hannah betrachtet sich selbst mit schwindelerregender Distanz: „Eine Veränderung in seinem Gesicht läßt mich erraten, daß er mich weinen sieht – was bedeuten muß, daß ich weine.“ Durch eine solch vollendete Kunst der Distanzierung wirkt Hannahs Elend noch ergreifender.

Kennedys außergewöhnliches Talent für elegante und dadurch um so korrosivere Komik hat sich inzwischen herumgesprochen. Geschickt versteht sie es, aus der verzerrten Erzählperspektive ihrer Heldin bewegende Effekte zu erzielen. Immer wieder überrascht sie mit kontrastierend gesetzten Gegenschnitten. So findet sich Hannah nach einer exzessiven Nacht im Pub zum Beispiel plötzlich im Wohnzimmer ihrer Eltern wieder, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen ist. Schon seit Stunden monologisiert sie lallend in einer rustikalen Tonlage, die mehr auf die Ohren ihrer Mitzecher als auf die ihrer verzweifelten Mutter abgestimmt ist.

Raffiniert spielt Kennedy mit der Erzählperspektive und blendet kontrapunktisch vom Rausch zur Realität herüber. Bei allem Furor, der zwischen ihren Zeilen pulsiert, inszeniert sie ihre bittere Weltsicht doch in einem erstaunlich klassischen Stil, der reich an Bonmots und lyrischen Bildern von klassischer Schönheit ist. Säufergeschichten haben wir schon sonder Zahl gelesen, aber wurden uns die Rechenoperationen des betäubten Gehirns jemals in solch vollendeter Logik vorgestellt: „Durch blitzartige zahlenlose Berechnungen kam ich zu dem Schluß, daß [Robert] sich nicht gegen den Fußboden lehnte, sondern darauf lag, was wiederum bedeutete, daß ich über ihm stand.“

A. L. Kennedy gewinnt dem alkoholisierten Wahrnehmungsorgan ihrer Heldin eine äußerst originelle Weltsicht ab. Das Tor auf dem Etikett der Bushmills-Flasche ist die Pforte zum Reich der Poesie. Diese erstaunliche schottische Autorin kombiniert das ungezügelte Temperament einer jungen Wilden mit dem klassischen, eleganten Stil einer alten Meisterin.


A.L. Kennedy: Paradies. Roman, Aus dem Englischen von Ingo Herzke, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2005, 368 Seiten, 22,50 Euro