Stephan Maus

Essai über die Open-Source-Kultur (SZ)

Veitstanz der ikonoklastischen Teufel auf dem Gerätepark: Mit Open Source Software gegen die digitale Unmündigkeit (SZ, 12.04.05)

Jetzt locken sie wieder megahertzzerreißend, die neuesten Chips. Jetzt säuseln sie wieder sirenengleich aus ihrem Gehäuse, die schnellsten Festplatten. Jetzt flüstern uns die Lüfter wieder neue Begehren ein, und die WLAN-Funkwellen verdrehen die Moleküle in unserer Hirnflüssigkeit.

Mit den glitzerndsten und brutzelndsten Features buhlt die frisch erblühte IT-Branche um die Kaufkraft der gebeutelten Hartz IV-Gesellschaft. Und das Erstaunliche daran ist: Die Gesellschaft ist begeistert. Und wird kaufen. Dabei geben die Offenherzigeren unter den IT-Pressesprechern freimütig zu: Bis auf das Special-Effects-Team von Roland Emmerich braucht niemand den neuen Gigahertz-Computer von Aldi. Es geht einzig darum, alljährlich neue Fetische zu produzieren und frische Kauflust zu wecken. In rasender Hatz entwickelt die Computerindustrie Potemkinsche Geräteparks. Hinter den aufgeblähten, hysterisch blinkenden Benutzeroberflächen werkelt Software, deren reine Funktionalität auch schon für ein Hundertstel der Rechenleistung zu haben wäre.

Gegen das High-Tech-Wettrüsten der IT-Industrie hilft nur konsequentes Low-Tech. Zum Glück haben die wahren Computer-Gurus und die ehrenwerten Hacker aus der Open Source-Bewegung immer schon Wert darauf gelegt, daß ihre Software auch noch auf alter Hardware läuft. Ressourcenschonendes Programmieren und Abwärtskompatibilität sind in diesen Kreisen eine Tugend. Aufgeblähte Software hat ein eigenes Schimpfwort: Bloat!

Vi, der 1976 vom heutigen Sun-CEO Bill Joy programmierte Editor, läuft auch in seiner aktuellsten Version noch auf der ältesten Maschine, die man bei Ebay ersteigern kann. Wer dagegen versucht, die neueste Microsoft-Software auf einem alten Computer laufen zu lassen, wird keine Freude haben. Und mit einem veralteten Internet Explorer ins Netz zu gehen, wäre grob fahrlässig; - schon der aktuelle ist problematisch. Der Gerätezyklus wird vom Finanzamt realistisch eingeschätzt: Will man seinen Computer mit kommerzieller Software betreiben, kann man ihn nach drei Jahren abschreiben.

Der Programmkern kommerzieller Software trägt die DNA des Kapitalismus’. Die Kernel von freien Betriebssystemen hingegen wie Linux oder den BSD-Abkömmlingen OpenBSD, NetBSD und FreeBSD sind so schlank designt, daß manche von ihnen sogar in ihrer aktuellen Version noch flüssig auf einem alten Amiga oder Atari laufen. Und Dank ihrer modularen Architektur lassen sich diese Systeme optimal an die Leistungsfähigkeit der jeweiligen Hardware anpassen. So kann man sich für ein altes Gerät problemlos mit Hilfe eines Open Source-Kernels und schlanker freier Software ein maßgeschneidertes System zusammenstellen.

Die Lektion der Open-Source-Bewegung ist revolutionär: Für eine schnelle, sichere und aktuelle Arbeitsumgebung braucht man weder die neueste Hardware noch teure Software. Die wahre digitale Heilsbotschaft für die bankrotte Hartz-IV-Gesellschaft kommt nicht aus der boomenden IT-Branche, sondern aus der Open Source-Gemeinde. Sie lautet: Der arbeitstüchtige Recycling-Laptop für 50 Euro ist keine Utopie. Nicht zuletzt eine gute Nachricht für Entwicklungsländer. Für sie bietet Open Source die einzigartige Chance, die vieldiskutierte Digital Gap, die digitale Kluft, zu überwinden.

Läßt man sich auf die Low-Tech Recycling-Experimente ein, ist der Erkenntnisgewinn beeindruckend. Für die Konsumgesellschaften geht es darum, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und der Abhängigkeit vom Potemkinschen Gerätepark auszusteigen. Nur so kann der Computer zu seiner ursprünglichen utopischen Kraft zurückfinden und sich zu einer Erkenntnismaschine entwickeln, die durchaus eine neue Lebenshaltung produzieren könnte. Das wäre dann die wahre digitale Revolution. So jedenfalls hatten die Hippie-Hacker und Cypherpunks in den kalifornischen Garagen sich den souveränen Umgang mit dem Rechenknecht vorgestellt, bevor Bill Gates und Steve Jobs die Garagen dann für ihre Porsches brauchten.

Ich jedenfalls bin bedingungslos bekehrt. Und das seit sechs Monaten. Denn vor genau einem halben Jahr mußte ich den PC-Doktor an meinen virenverseuchten Arbeitsplatz rufen. Der Mann aus Berlin-Steglitz mit Notrufhandynummer, Goldkettchen und zu kurzer Joop-Jeans kam mit einem großen Aluminium-Koffer und nahm für vier Stunden meinen Computer in Geiselhaft. Als er die Maschine erst einmal in seinen Klauen hatte, um ihr das heilige Microsoft neu aufzuspielen, war ich ihm bedingungslos ausgeliefert. Er hatte mir viel mitzuteilen, der Mann aus Steglitz. Wie es bei mir in der Zone eigentlich aussehe? Warum meine Fenster eigentlich so morsch seien? Hier bröckele ja alles. Aber kein Wunder bei einem schwulen Bürgermeister.

Das rhythmische Klicken des Goldkettchens gegen den Aluminiumkoffer schien ihn anzufeuern, denn der PC-Doktor war nicht mehr zu bremsen. Ich hätte ihm so gerne einen Tritt verpaßt. Aber er hatte meinen Computer in seiner Gewalt. Er besaß die Macht, ich war sein Microslave. All meine Daten waren ungesichert! Ein halb vollendeter Roman! Vier weitere Entwürfe! Ganze Gedichtzyklen! Dramenskizzen! Meine gesamte Korrespondenz! Mein berüchtigter E-Mail-Verteiler! Meine noch viel berüchtigteren Steuerunterlagen! Alles in den Händen des grausamen PC-Dr. No! Ich war ein typischer hilfloser DAU: der dümmst anzunehmende User. Als der häßliche Mensch über meine morsche Treppe hinaus in die problematische Stadt der schwulen Bürgermeister verschwand, tat ich einen brennenden Schwur: „Ab morgen machst du dir die Maschine untertan. Ab morgen sprengt in diesen bröckeligen Mauern ein Microslave seine Fesseln.“

Bei Ebay habe ich mir dann einen 8 Jahre alten Laptop zum Forschen ersteigert. Drei, zwei, eins: Bei genau 50 Euro fiel der Hammer für das rustikale IBM Thinkpad 760XL. Exakt der Preis für den Hausbesuch meines PC-Doktors. Wie ein rätselhafter Monolith stand das massige schwarze Gerät auf meinem Küchentisch: Intel Pentium MMX, 166 MHz, 48 MB RAM, 2 GB Festplatte, CD-ROM, externes Floppy, Originalpreis 5000 Euro. Ein Tyrannosaurus Rex XXL. Seinerzeit war er von der NASA für Weltraumflüge zugelassen worden. Die intergalaktische Forschungsreise konnte beginnen.

Als nächstes habe ich nach einem Betriebssystem gesucht, das mich aus den Klauen der bösen Männer aus Steglitz und Redmond befreien würde. Ich habe mich für das robuste NetBSD entschieden, das aus der fruchtbaren Allianz von akademischer Unix-Tradition und wild wuchernder Hackerkultur entstanden ist. Linux ist schon gut, dieser Pinguin ist ja auch zu sympathisch. Aber die Maskottchen von NetBSD sind eine Bande ikonoklastischer Teufel, die mit wehender Fahne einen Haufen Schrottcomputer stürmen. Das paßte zu meiner Stimmungslage.

NetBSD ist das Betriebssystem, das die meisten Hardware-Plattformen unterstützt. Es läuft sogar auf der X-Box von Microsoft, was wohl die subversivste Portierung einer freien Software sein dürfte: Die Hacker haben die einzige Hardware von Microsoft geknackt und mit ihrer Software bespielt. Dieser digitale Juwel hat nur einen einzigen lästigen Kratzer: NetBSD ist berüchtigt für eine der benutzerunfreundlichsten Installationsroutinen überhaupt. Eigentlich kann man auch gleich versuchen, Joseph Weizenbaum persönlich auf die Festplatte zu kopieren. Aber wenn der gute alte Joe dann erst einmal im Inneren der Blackbox seine Dienste tut, gibt es nichts mehr, was NetBSD bremsen könnte. Und Dank seiner ausgefeilten Software-Paketkollektion stehen einem via Internet mehr als 4000 täglich gepflegte, sauber designte und perfekt an dieses sehr homogene Betriebssystem angepaßte Programme zur Verfügung. Umsonst.

Nach einer Woche blinden Herumstocherns in schwarzen Pixelwüsten sah ich endlich Zahlenkolonnen über meinen Bildschirm laufen: Der Bootvorgang! Das nackte System war aufgespielt. Auf dem Bildschirm stand zu lesen: „Copyright 1980-1994: The Regents of the University of California. Copyright 1996-2005: The NetBSD Foundation. Welcome to NetBSD!” Drei Zeilen, die die ganze bewegte Geschichte der freien Software resümieren, die ursprünglich aus den Rechenzentren der Universitäten stammt, später von Unternehmen übernommen wurde, um dann schließlich von Freiwilligen noch einmal neu programmiert zu werden, damit man sie unter einer eigenen freien Lizenz jedem Interessierten zur Verfügung stellen konnte.

Welcome to NetBSD! Es war wie in den Romanen des Cyberpunk-Autors Neal Stephenson. Ich war in der Matrix, in den Kellergewölben der Maschine. Keine Icons, keine Maus, weder Drag noch Drop. Das Ende von Klickibunti. Nur ein zaghaft blinkender, dünner Cursor. Nun galt es, eine komfortable Arbeitsoberfläche einzurichten. Alles, was man sonst schlüsselfertig bekommt, muß hier in Handarbeit erledigt werden. Dabei lernt man jeden Chip seines Computers persönlich kennen. Am besten bin ich heute mit meiner Graphikkarte Trident Microsystems Cyber 9583 befreundet, denn sie hat mir sehr viel Ärger bereitet.

Nicht mehr als einen ausrangierten Laptop aus dem Elektroschrott und ein Handbuch braucht man, um dem Klammergriff der bösen Männer aus Steglitz und Redmond zu entkommen. Das Handbuch! Dieses Dokument ist eher ein utopisches Buch, denn es setzt sich aus zahllosen im System verstreuten Manual-Pages zusammen, die über ein Befehlsfenster auf den Bildschirm oder den Drucker geleitet werden: Die legendären Man-Pages, die nicht zuletzt ein Bekenntnis sind, denn freie Software dokumentiert sich ausführlich selbst. Sie gibt dem Nutzer alle nötigen Systeminformationen an die Hand und erlaubt einen offenen Blick in ihren Quellcode. Hier gibt es keine Betriebssystemgeheimnisse. Man muß nur lesen wollen.

Diese freien Systeme sind also auch ein pädagogisches Großprojekt. Lesen lernen mit Open Source. Es ist geradezu rührend, welch heilige Verehrung in der Open Source-Gemeinde dem Handbuch entgegengebracht wird. Stellt man in den spezialisierten Newsgroups im Usenet oder auf den zahlreichen Mailingslisten eine allzu banale Frage, bekommt man schnell zu lesen: „RTFM!“ Read the Fucking Manual. Kein orthodoxer Priester bringt der Bibel einen ähnlich heiligen Respekt entgegen wie die Open Source-Nutzer ihren Man-Pages.

Der Weg aus den Fängen des PC-Doktor-Kartells ist steinig. Erst nach sechs Monaten durfte ich schließlich in einer naßkalten Märznacht mein persönliches Wunder von Berkeley erleben: Um 01:23 Uhr Systemzeit, während im Cebit-Hannover die Sales-Manager in den Hotel-Lobbies auf das neue Wachstum der IT-Branche anstießen, sah ich endlich meine Benutzeroberfläche in Farbe. Ein halbes Jahr lang hatte ich entsagungsvoll im düsteren Schwarz der Textkonsole gesessen.

Aber all die langen Nächte voller konzentrierter Meditationen, der ganze Haß auf die Maschine und das langsam wieder zurückkehrende Begehren hatten sich gelohnt. Es war eine Epiphanie. Der sagenhaft elegante Windowmanager „Blackbox“ zauberte mir ein kristallines Bild auf den prähistorischen Laptop, und in sauber definierten Pixeln erschien in einem X-Terminalfenster der legendäre Kommandoprompt der Unix-Bourne-Again-Shell Bash: „maus@phoenix~$“. Der Phönix kauerte in der Asche meiner Unmündigkeit und wartete auf meine Befehle. Nie war des Menschen Liebe zur Maschine größer. Vor mir lag schimmernd das Graphical User Interface, die frisch polierte GUI.

Von da an ging alles sehr schnell. In weniger als einer Stunde hatte ich sämtliche Software aufgespielt, mit der ich in Zukunft arbeiten werde. Als in Hannover die letzten IT-Manager zu Bett gingen, hatte ich all meine Werkzeuge zusammen: Texte, Mails und Newsgroup-Postings werden von nun an mit dem mythischen Text-Editor GNU Emacs verfaßt, der die eierlegende Wollmilchsau unter den Open-Source-Werkzeugen ist. Der GNU Emacs kann praktisch alles. Sogar eine richtige Psychoanalyse, die auf dem berühmten Turing-Test zu künstlicher Intelligenz aufbaut, in dem eine Person über eine Tastatur und einen Bildschirm ohne Sicht- oder Hörkontakt mit zwei unbekannten Gesprächspartnern einen Chat führt. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Kann die Person die Gesprächspartner nicht auseinanderhalten, hat die zu testende Maschine den Turing-Test bestanden. O-Ton GNU Emacs:

I am the psychotherapist. Please describe your problem. Each time you are finished talking, type RET twice.
I hate PC-Doctors.
Why do you hate PC-Doctors?
They are evil.
Is it because they are evil that you came to me.
Asshole!
Can you elaborate on this?
Fuck you!
I would appreciate it if you would watch your tongue.

Ich bin begeistert. Nie wieder PC-Doktor! Der GNU Emacs wurde 1985 von Richard Stallmann, einem der Gurus und Gründer der Open Source-Bewegung, programmiert und ist nach zwanzig Jahren Intensivbelastung unter den hackenden Fingern von Programmierern aus aller Welt inzwischen bei seiner 21. Version angekommen. Er spricht auch Bengalisch. Von Chinesisch, Japanisch und Sanskrit ganz zu schweigen. „Sorry, Mayan Hieroglyphs are not supported.” (www.gnu.org) Dieser Editor wird von seinen Anhängern so abgöttisch verehrt, daß sie die Church of Emacs gegründet haben. Stallmann ist ihr sehr agiler Papst. Die Jünger tauschen sich in der Newsgroup alt.religion.emacs aus, wo sehr fundiert über die göttlichen Attribute des Pufferspeichers debattiert wird.

Meine Texte werde ich zukünftig mit dem Programm TeX in Form bringen. Dieses Satzprogramm wurde in den späten Siebzigern von Donald Knuth geschrieben, nachdem er den schrecklichen Drucksatz seines Opus Magnum „The Art of Computer Programming“ sah. Also programmierte Knuth nach allen Regeln der Kunst das Programm TeX, das den Satzspiegel so gut beherrscht wie Franz Greno. Ins Web gehe ich mit einem der schnellsten und vor allem abgespecktesten graphischen Browser der Welt: Dillo. Und mit Open Source brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß ein häßliches Medium auf die Message abfärbt. Alle Quellen liegen jetzt offen vor mir.

Mögen meinetwegen die PC-Doktoren da draußen in der Stadt ihren infamen Geschäften nachgehen; mögen noch zehn weitere Cebits ins Land ziehen; - schon heute weiß ich: Ich werde diese Programm-Klassiker auch noch in zehn Jahren benutzen. Und allesamt werden sie auf einer 50-Euro-Maschine schneller, stabiler und sicherer laufen als das neueste Word oder Outlook auf dem aktuellsten Aldi-PC. Denn irgendwo da draußen im Netz, in dieser weltumspannenden, feuerfesten Bibliothek von Alexandria, sitzen fleißige, hochgelehrte Programmiermönche mit einer großen Vision und arbeiten an einem der beeindruckendsten Gemeinschaftsprojekte der Geschichte: Der Entwicklung von freier Software.

Und es ist eine unfaßbare Schande für die Europäische Union, daß sie diesen März beschlossen hat, dieser beispiellosen kollektiven Kulturleistung durch neue Softwarepatente den Garaus zu machen. Das ist so, als hätte ein dummer Mittelaltertyrann Gutenbergs Druckerpresse eingeschmolzen.