Stephan Maus

Richard David Precht: ‘Die Kosmonauten’ (NZZ)

Hilfstierpfleger auf der Arche Noah - Richard David Precht beschwört eine untergehende Welt: “Kosmonauten” (NZZ, 04.12.03)

Gott, denkt man, ein Berlin-Roman. Herrje, murmelt man, eine Liebesgeschichte. Und dann liest man eine sehr gelungene Berliner Liebesgeschichte. Boy meets girl, dreihundert Seiten Beziehungsrappelkiste, boy loses girl. Das Muster ist von sagenhafter Einfallslosigkeit, und es ist ein kleines literarisches Wunder, wie es Precht gelingt, den Leser schnell für seine Figuren und seinen Stil einzunehmen und ihn über den gesamten Text hinweg mit Herz und Verstand am Schicksal seines Pärchens teilnehmen zu lassen.

Erst einmal Köln. Die Straßenbahn ist ein Romangenerator. An der Haltestelle trifft Georg auf Rosalie und braucht weniger als eine Kurzstrecke, um die hübsche Kunststudentin für sich einzunehmen. Die beiden werden ein Paar und erst einmal glücklich miteinander. Das geht natürlich nicht in Köln. Also Berlin. Und das ist in diesem Fall sogar sehr gut so. Georg und Rosalie ziehen kurz nach dem Mauerfall nach Berlin, und Precht verbindet diese leicht melancholische Liebesgeschichte mit einem nostalgischen Abgesang auf die provisorische Nachwendezeit. In der Stadt und in der Liebe scheint alles möglich. In Mitte und im Herzen herrscht Aufbruchstimmung. Doch was zusammengehört, wird zusammenwachsen. Leider. Denn zusammengewachsen ist alles nur noch halb so interessant.

Die Parallele zwischen Stadtentwicklung und Beziehungsverlauf wird niemals aufdringlich symbolisch inszeniert, ist aber immer unterschwellig präsent. So gelingt es Precht, dem unerträglichen Berlin-Roman noch einmal neues Leben einzuhauchen. Die Hauptstadt wird hier nicht hysterisch abgefeiert, sondern auf dem traurigen Weg vom Raum der tausend Möglichkeiten hin zum durchgestylten Marketingmonolithen gezeigt. Das Schicksal des Liebespaares läßt sich exemplarisch für die allgemeine Stadtentwicklung lesen. Nach einer glücklichen Phase der gemeinsamen Improvisation zerbricht die Beziehung an Ehrgeiz, Glamoursucht und dem dringlichen Wunsch, groß mitzumischen. Während sich Georg genügsam in eine Existenz ohne Karriereansprüche fügt und einen Job als Tierpfleger annimmt, bewirbt sich Rosalie erfolgreich für einen Job in einer Werbeagentur, die Berlin als innovatives Produkt vermarktet. Rosalie wird Partnerin für Berlin und badet in Buzz-Words. Das kann nicht gut gehen.

Haben die beiden zuerst Berlin wie Kosmonauten das fremde All erforscht, umkreisen sie sich nun wie zwei fremde Planeten. Folgerichtig verliebt sich Rosalie in einen sportwagenfahrenden Architekten, der mit seinen Bauten jene Lücken der Stadt schließt, in denen sich so viele sympathische Nischenexistenzen ansiedeln konnten. Nicht zuletzt Roslaie und Georg. Während Rosalie mit dem Architekten im Sportwagen fährt, kehrt Georg stoisch die Pfade vor dem Eisbärgehege im Tierpark Ost, dem die feindliche Übernahme durch den Zoologischen Garten droht. Rosalie hat den Wind der Zukunft im Haar, Georg fegt das Laub des vergangenen Sommers zusammen. Er ist der Hilfstierpfleger auf der Arche Noah, und der Berg Ararat ist auf keiner Karte zu finden.

„Kosmonauten“ ist ein melancholischer Abgesang auf eine Liebe und eine Stadt. Richard David Prechts dramaturgischen Rezepte sind konventionell, doch ihre sprachliche Ausarbeitung ist originell. Precht hat eine Vorliebe für rhetorische Pirouetten und trickreiche Stilfiguren. So heißt es vom Pergamonmuseum, es sehe aus, „als stünde es in sich selbst.“ Die Dinge wie die Figuren stehen in diesem melancholischen Liebesroman immer ein wenig neben sich selbst. Precht hat einen erfreulich gut entwickelten Sinn für Humor. Der melancholische Grundton und die vielen komischen Szenen gehen eine reizvolle Verbindung miteinander ein. Prechts Tierparkszenen suchen ihresgleichen. Wahrscheinlich ist er nach Alfred Brehm der Schriftsteller, der am amüsantesten über Tiere schreibt. Menschen kann er auch sehr gut. Es gelingt ihm ausgezeichnet, eine reiche Auswahl sehr unterschiedlicher Charakter plastisch zu schildern. Der Berliner Menschenzoo ist reich bestückt. Das Künstlergehege ist besonders interessant, und man erkennt ein paar ganz besonders wichtige Tiere wieder. Hier bekommt „Kosmonauten“ die Pikanterie eines Schlüsselromans. Richard David Precht hatte den Mut, den appetitzügelndsten Satz der Saison zu schreiben: „Es gab Blutwurstragout, ein Kellner an Georgs Tisch nuschelte etwas von ‘toter Oma.‘“ An dieser Stelle wünscht man sich etwas mehr Astronautennahrung in „Kosmonauten“. Auf einer Szene-Party geht Georg der bedauernde Gedanke durch den Kopf, daß es für all diese wichtigen Kunstleute nur noch wichtige, interessante oder spannende Bücher gebe, aber keine schlichtweg schönen mehr. „Kosmonauten“ ist ein sehr schönes Buch.


Richard David Precht: Die Kosmonauten. Roman, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2003, 383 S., Fr. XX, YY