Stephan Maus

Friedrich Ani: ‘Gottes Tochter’ (SZ)

Harry, hol schon mal den Hölderlin - Friedrich Ani schickt Kommissar Süden in den Osten: “Gottes Tochter” (SZ, 31.10.03)

Wie viele Telephonbücher und Taufregister Friedrich Ani wohl wälzen mußte, bevor er einen geeigneten Namen für seinen Münchner Hauptkommissar aus der Vermißtenstelle des Münchner Kriminaldezernats 11 fand? Es hat sich gelohnt: Tabor Süden. Ein exotischer Vorname neben dem klar strahlenden Nachnamen, und beide tragen eine Sehnsucht in sich nach Gefilden, wo Zitronen blühen und nicht die Stockflecken muffeliger deutscher Amtsstuben. Der Nachname des Kommissars ist einer der ganz wenigen Orte in diesem Krimi, wo noch die Sonne scheint.

München. Die achtzehnjährige Julika wird vermißt gemeldet. Ein Fall für Kommissar Süden. Julika ist aus ihrem beengenden Elternhaus nach Rostock zu Rico geflohen, in den sie sich Wochen zuvor verliebt hat, nachts in einer Kneipe, gleich neben der Jukebox, auf einer anderen Flucht vor ihren erdrückenden Eltern. Amor muß es verpaßt haben, im August 1992 die Tagesschau zu gucken: Die Liebe führt Julika nach Rostock Lichtenhagen. Rico gehört zu einer Gruppe Hooligans, die bei den Pogromen gegen die Vietnamesen in dem Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee Feuer legten. Ani zeichnet mit bewundernswerter Glaubwürdigkeit das Bild einer Gruppe von drei Jungen und einem Mädchen, die während der rassistischen Hatz einen Vietnamesen aus einem Fenster stürzten. Der Mann starb. Rico ist der orientierungslose Mitläufer der Brutalo-Clique, der sich ständig ratlos am Kopf kratzt, während sich um ihn herum die Apokalypse zuspitzt. „Gottes Tochter“ ist die ergreifende Geschichte zweier Heranwachsender, die verzweifelt versuchen, sich aus der Umklammerung ihres Milieus zu lösen und ihren eigenen Weg zu finden.

Süden ermittelt im Osten. Und schnell greift der Plattenbaublues um sich. Für Julika, Papis hochpolierte Perle aus dem Münchner Schmuckkästchen, haben die breiten Verkehrsachsen der Hochhaussiedlungen, die Hinterhöfe und die zugigen Straßenbahnhaltestellehäuschen ihren besonderen Reiz: hier sieht es endlich aus wie in ihrem Inneren. Die Landschaft zur Psyche. Geduldig, unbeirrbar und immun gegen alle Anfeindungen ermittelt sich Tabor Süden immer tiefer in ein Gewirr aus Schuld und Verdrängung hinein. Seine einzige Dienstwaffe ist das Gespräch. Seine Technik ist hocheffizient: regungslos hört er zu. Die klassischen Polizeitechniken sind ihm suspekt: „´Ich bin eine schlechter Beschatter´, sagte Süden. Sie brauchte nicht zuzustimmen, jeder im Dezernat wußte es.“

Süden trumpft nicht als brillante Spürnase auf, sondern als massiger, ruhender Pol, der durch seine fast schon magnetische Aura auch die Schweigsamsten dazu bringt, ihm ihre Geschichte anzuvertrauen. Seine Gravitationskraft wirkt anziehend auf die Gezeichneten des Schicksals. Der Kommissar ist der Südpol aller Desorientierten, aller Verschwundenen und Vermißten. Mit Südens Hilfe norden sich all die Verlorenen langsam wieder ein. Auch wenn das nicht immer ein glückliches Ende für die Vermißten bedeutet, finden sie sich wenigstens wieder selbst. Souverän entwickelt Friedrich Ani weit über ein Dutzend Lebensgeschichten, die er dank seiner hohen Kunst des Dialoges aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Ani inszeniert latent oder offen rassistische Diskurse, zärtliche Wortwechsel zwischen dem jungen Liebespaar, die feindlichen Ablenkungsmanöver der verschworenen Polizistenkollegen aus dem Osten, und jedes Mal trifft er den richtigen Ton.

Ani verwebt eine eindrucksvolle Anzahl von Schicksalsfäden und schürzt seinen Plot zu einem fatalen gordischen Knoten. Sorgfältig werden die großen Wendepunkte der Handlung motivisch angekündigt. Raffiniert legt Ani falsche Fährten: Ist ein Messerverkäufer schon ein böses Menetekel oder doch nur eine harmlose Nebenfigur? Wird das Messer auf dem Küchentisch später noch zur Mordwaffe? Es ist ungeheuer spannend zu verfolgen, wie die Neonazi-Hooligans den Druck auf ihren Kumpel Rico erhöhen, wie die Pogrom-Schande über allen Schuldigen hängt und sie nicht losläßt und wie der ewige Zauderer Rico endlich versucht, sich von einem Milieu loszusagen, das wohl irgendwie falsch sein muß, so viel ahnt er, nur leider versteht er es nicht wirklich. So entsteht ein differenziertes Bild eines entlarvenden Moments jüngerer deutscher Vergangenheit.

Um so bedauerlicher ist es, daß der Autor hin und wieder versucht, seinen so gelungenen Krimi zu literarisieren. Die eindeutige Anlehnung von Julikas und Ricos Schicksal an „Romeo und Julia“ wirkt recht gewollt und ist so gar nicht nötig. Ein diskretes Mitschwingen des Intertextes wäre eleganter gewesen als diese expliziten Referenzen an das elisabethanische Drama. Warum muß Julika in einem Rostocker Motel Shakespeare rezitieren? Vielleicht, weil der deutsche Kulturbetrieb den Krimiautoren immer noch einredet, ihre Texte seien mindere Literatur. Muß Ricos Mutter Gedichte als existentiellen Rettungsanker im Herzen tragen? Ebenso wenig leuchten die poetischen Exkurse des Kommissars in die hölderlinschen Gefilde der Poesie ein. Harry, hol schon mal den Hölderlin. Natürlich dürfen Kommissare Gedichte lesen. Aber müssen sie ihre Reclam-Kollektion wirklich so sichtbar in ihrer Uniformtasche spazieren führen?

Es ist, als packte den Krimiautor Ani der Ehrgeiz, hohe Literatur machen zu wollen. Dabei ist sein ausgezeichneter Krimi schon Literatur genug. In seinen lyrischen Momenten wird Ani von kosmischem Kitsch überwältigt und läßt seinen Kommissar Hymnisches in den Münchener Abend rezitieren: „Er stellte sich ans Fenster und las in den frühen Sonnabend, mit lauter Stimme ins Sonnensystem hinaus.“ Süden, trink noch ein Pils und vergiß einfach das Sonnensystem. Hier hampelt der Autor zu sehr auf dem pseudo-poetischen Effektpedal. Ein bißchen weniger Sonnensystem, ein bißchen weniger implodierender Hauptkommissar wäre wünschenswert: „Bis zum Morgengrauen lag er so da, ein implodierender Mann, vierundvierzig Jahre alt, ledig, Hauptkommissar, Besoldungsgruppe A 11.“ Hier ist das Wörtchen „implodierend“ die Scheidegrenze zwischen Neo-Noir-Kitsch und eleganter Lakonie.

Doch das bleiben verzeihliche Ausrutscher, kleine Makel auf dem Weg zum perfekten Krimi. Der Krimi-Freund ist dankbar dafür, daß Dank Friedrich Anis außergewöhnlichem Talent und seiner professionell hohen Produktivität das Monopol des biederen und reaktionären Krimikitsches von Donna Leon und Co gebrochen werden könnte. Ani weiß das Krimi-Genre meisterhaft für kritischen Ermittlungen in der deutschen Gesellschaft zu nutzen. Der Kommissar wird bei ihm noch einmal zum engagierten Ethnologen im eigenen Land.


Friedrich Ani: Gottes Tochter. Roman, Droemer, München 2003, 396 S., 19,90 Euro