Gott, die Knochenbrecher kommen! (SZ, 24.05.03)
Seit einigen Jahren trainiere ich Kung Fu. Als ich mich eines Morgens zu steif fühlte, um an die Computer-Kabel unter meinen Schreibtisch zu kommen, mußte Bewegung her. Das Modem war nicht richtig eingestöpselt, das Mauskabel hatte sich verheddert, und ich kam nicht mehr an die Matrix. Zu starr für die Matrix. Also Sport. Ich mag keine Trompeten, Jazz-Tanz fiel also aus. Ich wohne in der Stadt, bin ziemlich eitel und finde es unelegant, mit schmerzverzerrtem Gesicht auf fremde Passanten loszustürmen. Joggen ging also auch nicht. Außerdem bekommt man davon graue Haare, einen Dreiteiler mit Siegelring und verrät die Ideale seiner Jugend, wie Joschka Fischer beweist. Solche Nebenwirkungen sind mir zu gefährlich. Sport soll heilen, nicht noch kranker machen. Da ich als nervöser Charakter mit einem leichten Hang zur Hyperaktivität und einer kontrollierbaren, aber merklichen Schilddrüsenüberfunktion schon immer anfällig für den ruhigen Charme des Buddhismus war und gleichzeitig auch die durchtrainierten Dialoge asiatischer Action-Filme sehr zu schätzen weiß, paßte Kung Fu eigentlich ganz gut. Ich war reif für Meister Lee.
Meister Lee heißt nicht Bruce, kommt aus Indonesien, ist ein ausgesprochen höflicher Mann und gibt gegen Bezahlung die Kung-Fu-Kenntnisse weiter, die ihn sein Großvater in seiner Heimat gelehrt hat. Sei geschmeidig wie ein Schilfrohr, unberechenbar wie das Schwanzende des Drachen vom Berge der trauernden Orchidee und klug wie der Affe in der Abenddämmerung. Sport ist ein Gedicht. Es heißt, Meister Lee war einer der ersten Kung-Fu-Lehrer in der Stadt. Er erfüllt also alle mythologischen Voraussetzungen eines respektablen Kampfkunstlehrers. Außerdem trainiert er aus Prinzip keine Polizeisportvereine. Unter seiner fachkundigen Anleitung kann man sich gegenseitig durchaus politisch korrekt vermöbeln.
Das Kung-Fu-Training findet in einem Fabrik-Loft in einem Hinterhof statt, der ungefähr 4,25 mal so cool ist wie der fernöstliche Traum eines Set-Designers aus Hollywood. Der Industrie-Loft ist eine Mischung aus asiatischem Sweat-Shop und Hannoveraner China-Restaurant. Die Mischung aus funktionaler Industriearchitektur und barocken Gipsornamenten ist verführerisch. Die oberschenkeldicken Fallrohre werden von Drachenköpfen verziert. Die Wände sind gekälkt und mit bunt bestickten Fahnen und Wimpeln geschmückt, die in Indonesien wohl so etwas wie jene staatlichen Prüfungsurkunden ersetzen, die in deutschen Metzgereien und Bäckereien hängen. Im Groben bedeuten sie wohl, daß ich meinen fünfunddreißigjährigen Körper einem staatlich geprüften Knochenbrecher anvertraue.
Nun ist Meister Lee alles andere als eine wüste Tigerkralle. Eher ein zuvorkommendes Hasenpfötchen. Meist geht er recht buddhistischen Tätigkeiten nach, während seine Schüler sich gegenseitig die Nasen einhauen und komplizierte Doppelsprünge üben, die in Lehrbüchern so poetische Namen wie zum Beispiel „Blumentritt“ tragen. Das Ergebnis eines Blumentritts ist für gewöhnlich ein Veilchen. So steckt Meister Lee während der Trainingsstunden einen Satz neuer Räucherstäbchen in die Halterungen über der bedrohlichen Schwertsammlung, legt eine frische Banane und zwei Äpfel in die Opferschale neben dem Sandsack, füllt in seinem kleinen Meditationsbüro neben der Umkleidekabine seine Umsatzsteuererklärung aus oder füttert seine Fische.
Die Fische sind Meister Lees ganzer Stolz. In seinem Kung-Fu-Loft stehen zwei Aquarien. Ein klassisches Helmut Kohl-Exemplar, in dem exotische Fische um lasierte Tonfiguren in Kamfpositionen kreisen. Und ein schwarzer Plastik-Bottich zum Zementanrühren aus dem Baumarkt. In den Bottich führt ein Gartenschlauch, der aus dem Zentrum ragt und eine Wasserfontäne ausspuckt, die das konzentrische Biotop von zwei Goldfischen berieselt. Das muß etwas mit Feng Shui zu tun haben, aber zugegeben, nichts ist meditativer als das leise Plätschern des Zementbottichspringbrunnens und das lautlose Sinken des Fischfutters in einer Atmosphäre des schnaufenden Zweikampfes und der kontrollierten Gewaltausbrüche.
Noch nie habe ich Meister Lee die Contenance verlieren sehen. Wenn überhaupt, dürfte er sie nur verlieren, wenn jemand die Kreise seiner Fische stört. Dann allerdings muß seine Wut grausam sein. Hin und wieder gibt Meister Lee eine gut gemeinte Anweisung, die ahnen läßt, wo auch bei Buddhisten Schluß mit Räucherkerze, Sanftmut und Gebetsfahne ist: „Den Arm mußt du dann brechen. Die Elle ist die empfindlichste Stelle. Auch ein Tritt in die kurze Rippe wäre in diesem Fall angebracht. Eine gebrochene Rippe sieht man nicht, ist aber ungemein schmerzhaft. Juristisch vorteilhaft.“
Kung-Fu entspannt. Im Hintergrund blubbert die Teemaschine, der Springbrunnen im Goldfischzuber plätschert, und ein kleiner Junge greint ein bißchen, weil er sich gerade den Daumen gebrochen hat. Mein Modem erreiche ich seit Jahren problemlos, die Matrix unter meinem Schreibtisch habe ich wieder im Griff. Kung Fu ist gut gegen Nackenverspannung, Verseuchung der Gedankenwelt und gegen freche Männer auf Rock-Konzerten. Allerdings nur gegen die mittelfrechen, nicht gegen die hoffnungslos frechen mit den Gaspistolen, den feststehenden Messern und dem dringlichen Auftrag, die Menschheit zu knechten, zu erniedrigen und zu unterwerfen. Hier irren die Wachowski-Brüder. Gegen die hilft nämlich nur Tommy Franks. Insgesamt läßt sich sagen: Bei Meister Lee kann man in Würde schwitzen.
Das heißt, man konnte es noch bis zum Start des Matrix-Hypes. Denn mit Neo kommen auch die Neophyten, und Meister Lee wird jetzt für ein, zwei Monate etwas mehr Zeit über seiner immer komplizierter werdenden Steuererklärung verbringen müssen. Das hat ihn schon bei Matrix I ein gutes Stück nach vorne gebracht auf dem Weg zum makellosen Finanzamtskarma. Die Neophyten legen ihre Sonnenbrillen erst nach dem ersten Schlag aufs rechte Ohr ab. Sie tragen selbst im Hochsommer lange Staubmäntel. Erst dachte ich, sie trügen Schienbeinschoner unter ihren weiten Hosen, und hatte Verständnis, weil einem das Leben bekanntlich trotz mehrfacher roter Karte immer wieder in die Knochen grätscht. Aber die Neophyten tragen Gewichte mit Klettverschlüssen an ihren Beinen, damit die Beine höher fliegen, wenn sie ohne Gewichte treten. Bekämen sie noch ein Paar schwere Lederboots über die Schienbeingewichte, sie würden keine Sekunde zögern.
Überhaupt ist zögern nicht ihre Sache. Sie flitzen umher wie hysterische Labormäuse auf Dopamin und umgarnen einen mit verschnörkelten Gesten, als hätte ein transzendentaler Spieler sie gerade mit einer frischen Ladung Energiepunkte versorgt. Sie entladen ihre energetische Überversorgung mit unkontrollierten Tritten vor fremde Schienbeine, bis jemand die Geduld verliert und sie mit einem väterlichen Fußfeger neben einen Opferteller fällt. Dort beruhigen sie sich langsam im betäubenden Duft der Räucherstäbchen, gucken wie Bruce Lee nach einer Überdosis Anabolika, und man spürt, daß sie diese Szene gerade aus ihrer imaginären DVD über Keanu Reeves Abenteuer in der Wedding-Matrix schneiden. In den kurzen Freikampfpausen üben die Neophyten, die gekälkten Wände hoch zu laufen, um auf dem Zenit ihrer Schwungkraft eine Rolle rückwärts in die feindlich gesonnene Welt zu schlagen. Dabei bringen sie die kunstvoll gestickten indonesischen Staatsdiplome durcheinander. Man kann den Neophyten nur wünschen, daß sie in den nächsten Wochen niemals in Meister Lees Goldfischbottich fallen.