Stephan Maus

Reinhold Messner und der Yeti (Hessischer Rundfunk)

Eine Fantasie über Reinhold Messners Bericht “Yeti. Legende und Wirklichkeit” (Hessischer Rundfunk, 20.01.99)

„Wenn ich an dieser Geschichte nicht irre werden wollte, mußte ich wieder in die Berge gehen.“
Reinhold Messner

Fahrplanmäßig transportieren Züge gelbe Lichterquader durch unsre Nächte, schlagen altmodisch Funken aus den Schienen oder hängen trendbewußt in einem schwer verständlichen Magnetfeld. Mit parabolrunden Ohren horchen unsere Fassaden ins geschwätzige All, unsere Antennen stochern in der Atmosphäre nach einem Happen Sensation. Wenn´s hochkommt, bellt mal in der Ferne ein Hund. Aber auch das meist nur in der engagierten Nachkriegsliteratur. Willst du was wirklich Neues, kaufst du dir die Ritter Sport Knusperkeks. Mach deinen Abwasch und schließ die Wohnzimmertür, bevor du deine Schokolade ißt; sie schmeckt dann besser als mit schmutzigem Geschirr und offener Tür im Rücken. Beschlägt uns die Brille bei plötzlichem Temperaturumschwung allzu lästig, satteln wir auf Kontaktlinsen um. Und immer wieder transportieren Züge gelbe Lichterquader durch unsre Nächte.

Durch die tibetische Nacht aber steift herrenlos der Yeti, schnürt durch die Dunkelheit von Nepal, streunt durch die Finsternis von Kaschmir und lauscht in die Schwärze des königlichen Schattenreiches Bhutan, wo sich um Schlag zwölf die Blutegel von den Dschungelbäumen auf die Passanten fallen lassen. Lautlos bricht der Yeti durch´s Unterholz eines Hochwaldes, setzt über einen Murenstrich, balanciert über eine Geröllhalde, steht als rätselhafte Masse in einer Lichtung und wittert in den Ostwind. Übergossen vom Mondlicht starrt er auf sein ausgefranstes Schattenbild zwischen den scharfen Schattenkeilen der Berge und zweifelt für einen Moment an seiner Existenz. Dann aber, in einem heilsamen Anflug von roher Lebensfreude und purer Existenzbejahung, tötet er mit einem launischen Prankenschlag kurzerhand ein Murmeltier, die auch nicht viel zu lachen haben. In seinen lyrischen Momenten steht der Yeti mit seiner Vorderpranke an einen Baumstamm gelehnt und schaut in einen Rhododendron-Wald. Ist er unbekümmert, schlendert er steile Hänge entlang, reißt Wurzeln aus und wirft Erdbrocken hinter sich.

Der Yeti läßt sich nicht photographieren. Da ist er so eigen wie die alternde Marlene Dietrich. Oder wie ein hochempfindliches Gemälde. Der Yeti weiß: Blitzlicht ist schlecht für den Teint. Den hat er rostfarben, weiß oder dunkelbraun. Nie erscheint der Yeti in der Mitte unseres Blickfeldes. Man kann ihn nur aus den Augenwinkeln sehen. Die Stäbchen im Zentrum der menschlichen Netzhaut können ihn nicht erfassen; einzig die Stäbchen am Netzhautrand reagieren auf den Umriß eines Yetis. Überhaupt liebt er den Rand, ist genuine Randexistenz, taucht nur am Waldsaum auf, am Rande der Nacht oder des Tages, am Rande der Welt, ja, am Rand ihres Daches sogar, an der Weltenregenrinne, dort ungefähr, wo Hitchcocks Personal immer hinrutscht und hängenbleibt. King Kong turnt nicht mehr auf Hochhausdächern, sondern auf dem Weltendach. Niemand ist den Sternen näher als der Yeti. Sieh, dort steht er, Sternschnuppen im Fell, hinter´m linken Ohr Saturn, hinter´m rechten das Nordlicht. Ist das sein Schweif? Nein, der eines Meteoriten.

Sein „Y“ hat der Yeti von einem gestohlenen Yak. Bis auf ihren Anfangsbuchstaben verschlingt der Yeti Yaks mit Haut und Haar. Nichts steht dem Yeti so gut wie sein Y. Es erinnert an seine umfangreiche Fahndungsakte beim „Aktenzeichen XY ungelöst“. Aber auch das nachfolgende „eti“ mit dem Anklang an E.T. hat er sich mit viel Sinn für Popkultur ausgesucht.

Nach Menschen wirft der Yeti mit losem Geröll. Immer Über seinen linke Schulter hinweg, nach hinten. Ein dumme Angewohnheit, die ihn auf jedem Kugelstoßterrain disqualifizieren würde. Ein pfeifender Yeti bedeutet Gefahr. Vor ihm muß man bergab flüchten. Denn er hat zotteliges Stirnhaar, das ihm bei der Hatz nach unten in seine Augen hängt. Die sind wie zwei Stück brennender Kohle und setzen die Stirnlocken in Brand. Klettert er hingegen bergauf, fällt ihm sein langwüchsiger Kopfputz in herrlichen Strähnen in den Nacken, und sein Blick brennt zwei tropfnasse Löcher in den vergletscherten Gipfel.

Der Yeti drückt seine Spuren ins kristallklare Gedächtnis des Schnees. Manchmal geht er rückwärts bis an die senkrecht abfallende Kante eines Hochplateaus, so daß es aussieht, als sei er aus der klaren Bergluft schnurstracks auf die Hochebene übergewechselt. Bald geht der Yeti auf zwei, bald auf vier Beinen, wobei er hin und wieder sorgfältig die Hinterpfoten in die Abdrücke der Vordertatzen setzt. Die Abdrücke vergrößern sich, vertiefen sich, das Gewicht des Yetis scheint sich zu verdoppeln, und die Verwirrung ist perfekt. Forscher, Abenteurer, Stromer und Streuner aus aller Welt gießen die Abdrücke mit dem Gips ihrer spekulativen Vernunft aus, stellen sich die Form auf den Schreibtisch und verbringen schlaflose Nächte vor ihrem Rätsel. Yeti oder die schneeblinde Vernunft.

Schließlich endet der Gipsabdruck als Briefbeschwerer, der die wissenschaftliche Korrespondenz der pensionierten Weltenbummler daran hindert, durch´s offene Fenster auf die regennassen Straßen von London, New York oder Krefeld zu wehen. Und immer wieder transportieren Züge gelbe Lichterquader durch unsre Nächte. Die Kühnsten halten den Yeti für eine prähistorische Nischenexistenz, einen Quastenflosser der Berge, einen Neandertaler aus dem Tiefkühlfach der Geschichte, einen Ötzi mit noch gültigem Haltbarkeitsdatum.

Man sieht, der Yeti hat Humor. Viel ist ja auch nicht los im Himalaya, und ein bißchen Amüsement muß schon sein. In einer Großstadt würde der Yeti Klingelmännchen spielen. In seinen geschmacklosen Stunden vergißt der Yeti seine gute Kinderstube, greift zu dem Pseudonym „abscheulicher Schneemensch“ und stiehlt den Hochlandbewohnern eine Frau, mit der er in der dünnen Luft der Achttausender bildhübsche Zwitterwesen zeugt, die als erdverbundene Charaktere oft kleinere Hausarbeiten in buddhistischen Gemeinden Nordamerikas ausführen.

Die Liebe ist der Yeti unter den Gefühlen. Vor einigen Wochen sah ich einen anrührenden, handgeschriebenen Zettel an einen Laternenpfahl geklebt: „Wahlparty der Grünen: Du, M, braune Locken, Skijacke, Cordhose, Airwalks, Chance 2000-Sticker. Ich: F, Blümchenhose, hochgesteckte, schwarze Haare. Gespräch über Joschkas Siegelring. Muß Dich unbedingt wiedersehen. Bitte ruf mich an.“

So kann´s auch in Tibet gehen. In einer mondhellen Hochsommernacht 1986 offenbart sich der Yeti flüchtig dem Bergsteiger Reinhold Messner. Messner fällt in Liebe und läßt fürderhin nicht mehr ab von dem Nachtwesen. Er streift ihm nach und riecht an seinen Spuren: eine Mischung aus gefrorenem Knoblauch, ranzigem Fett und Kot. Messner macht Fotos, irgendein Post-Yeti macht Kratzer auf die Negative. Messner leuchtet in rußgeschwärzte Hütten, späht in Kessel geronnener Buttermilch, hebt Yakfelle hoch und linst in die Tantra-Räume buddhistischer Klöster. Nichts. Nur gefälschte Yeti-Pfoten oder Yeti-Skalps. Tibetische Kinder sehen die Abdrücke seiner vom Eise verstümmelten Füße, singen, springen, nennen ihn „Yeti“ und lachen. Die ganze Welt lacht. Ihm ist´s egal, er muß den Yeti unbedingt wiedersehen. Über zehn Jahre sucht er. Und wird sich immer sicherer: Der Yeti ist ein Braunbär, übelriechend und nachtaktiv. Die Tibeter nennen ihn „Chemo“ oder „Dremo“, die Zoologen „Ursus arctus“. Wird Reinhold Messner den Yeti weiterhin lieben können. Auch als Bären?

Aus einem häßlichen, fetten Turnschuhminister wurde unlängst ein athletischer, geschmackvoll graugestromter Siegelringminister. Morgen werden sich dann die Wolpertinger als tanzende Weißwürste in lebenden Senfkulturen entpuppen. Der Yeti ist ein Braunbär. Dremo, Chemo, Ursus arctus. Was kümmert’s ihn? Er hat jetzt endlich seine Ruh und kann die glühende Kohle seines Blicks durch die Dämmerung und die Nächte Zentralasiens transportieren.


Reinhold Messner: Yeti. Legende und Wirklichkeit, Verlag S. Fischer, Frankfurt 1998, 250 S., XX, YY DM