Stephan Maus

Bericht von der 7. internationalen Erotikfachmesse ‘Venus’ (SZ)

Shuttle-Bus von Sodom nach Gomorra

Der Funkturm auf dem Berliner Messegelände schickt Gedankenwellen in Richtung Pariser Eiffelturm. Der große Bruder ist weit weg, doch Berlin will auch mal sündig sein. Vier Tage lang. Am Rande der Stadt, zwischen Autobahndreieck, Lärmschutzmauern und Zentralem Omnibusbahnhof ballt sich der Sex. Auf dem Messegelände tagte vom 16.-19.10.03 zum siebten Mal die Venus, Deutschlands größte Erotikfachmesse. O Schaumgeborene, wer hat dich im Speckgürtel stranden lassen? O Aphrodite, denk an deinen Messeausweis.

Das Messegelände liegt inmitten von breiten Verkehrsadern und kann sicheren Fußes nur durch eine Fußgängerunterführung erreicht werden. Die Unterführung stammt aus den siebziger Jahren, jener Zeit, in der die Pornographie den Durchbruch in die Öffentlichkeit schaffte. Die Passage ist in Orange gefliest und wird beleuchtet von Lampen in Kleeblattform. Wer zur Venus möchte, muß diesen Transitraum durchqueren und wird von ihm gezeichnet: Neon, Fliesen, Orange, Kleeblatt. Und auch die vermarktete Erotik ist von der Ästhetik ihrer Geburtsstunde gezeichnet. Die moderne Venus wurde in einer Fußgängerunterführung geboren, in einem schrill gefliesten, neonbeleuchteten Kreißsaal, über den die Autos donnern, in den Rolltreppen führen wie in ein Kaufhaus, und wo künstliche Sonnen aus dem Zentrum von Glückskleeblättern strahlen.

Im ersten Moment der hirnvernebelnde Porno-Schock: Diese Frau dort wird doch nicht wirklich in aller Öffentlichkeit… in einer kathedralenhohen Messehalle mit dem Sex-Appeal eines Übungsareals für Gabelstaplerfahrschüler… vor Hunderten von atemlos fotografierenden, filmenden und starrenden Messebesuchern, die zu 80 Prozent so aussehen, als stünde am Ende ihres Trainingsplans das Gouverneursamt von Kalifornien… Doch, sie wird. Und dabei wird sie zehn Minuten lang gucken wie zur Zahnspangenanprobe, um dann mit leicht geröteten Knien wieder aufzustehen und auf dem Boden zwei fettglänzende Flecken in Form ihrer Brüste zu hinterlassen, die sie sich mit Massageöl eingecremt hat; - zwei fettige Flecken und einen abgebrochenen, künstlichen Fingernagel.

Inmitten von erotischen Bügelbrettbezügen, Treib’s-trotzdem-Tampons, Taschenmuschis mit Orgasmusgarantie, synthetischen Liebespartnern in Nixenform (bewegliche Augen, Pinkeloption), singenden Penissen und Gummibäumen, die überall aus Hydrokulturkübeln erigieren wie ein Metaphernwald – sind sie aus Dildorestmaterial, werden von ihnen Brustimplantate abgeerntet? - wird man Zeuge der wundersamen Metamorphose von Obsessionen in Nischenmärkte. Sogar für Brillenpornos ist Platz in Gottes sündiger Welt. Manche Nischenmärkte produzieren Tableaus, von denen die Surrealisten nicht zu träumen gewagt hätten. Eine japanische Filmproduktion läßt eine nackte Taucherin in den unauslotbaren Tiefen des offenen Meeres defäkieren und spürt mit einer Unterwasserkamera verträumt dem schwebenden Tanz der Sauerstoffbläschen um die aufsteigenden Fäkalien nach. O Japan, fernes Inselreich. Das stumme Staunen der Zuschauer unterscheidet sich in nichts von dem der Fische. Doch ungerührt kneten meditative Vertriebschefs handtaschengroße, schön geäderte XXL-Jelly-Multispeed-Vibratoren mit Genußring, linksdrehendem Clit-Teaser und rechtsdrehendem G-Punkt-Stimulator (waterproof, 2 Batterien) und verhandeln über Mengenrabatte und Aktionspakete. Plötzlich fällt der Blick des Besuchers auf eine besonders krude Perversion. Doch nein, es ist nur die Vorratskammer des Weißwurststandes. Der Blick hat schon lange seine Unschuld verloren.

Den Pornostars wird eine Art heiliger Respekt entgegengebracht, wie man ihn in archaischen Zeiten wohl nur den Sibyllen zollte. Die hinten abgesaugten und vorne drall gespritzten Frauen werden wie wissende Abgesandte aus einem fremden Reich behandelt, in dem alles möglich ist, in dem noch die abwegigste Obsession auf Verständnis stößt. Sie sind Hohepriester der Transgression, die ihre monumentalen Plattform-High-Heels tragen wie antike Kothurne. Noch der vorlauteste und abgebrühteste Ballungsraumfernsehmoderator lauscht in andächtiger Sammlung den Starlets. Im Bann der Pornoaura gibt es keinen Spott für künstliche Brüste, für Silikonlippen und Blondhaarperücken. Das alles sind respektierte Insignien eines Kults, der in einem unerreichbaren Wunschraum zelebriert wird, in einem utopischen Ganzwoanders, in Pornotopia: Vor der Kamera!

Ein Pornoaddict aus Hannover ist mit einem lebensgroßen Pappaufsteller seiner Lieblingsdarstellerin nach Berlin gereist, um die Ikone signieren zu lassen. Der Mann ist gekleidet, als hätte er noch vor seiner Abreise den Rot-Kreuz-Container geplündert, aber das spielt keine Rolle. Alle Darsteller sind so professionell, jeden Fan als Kunden zu betrachten. Jeder bekommt einen Kuß, ein Lächeln und ein Foto mit dem Star im Arm. Das gehört zum Geschäft, und das läuft trotz Krise scheinbar gut. Denn das Pornobusineß ist die hohe Schule des Kostenabbaus. Die Maxime ist: Wir können nur billig, aber da steht Ihr doch drauf! Aufwendig produzierte Filme sind sehr selten.

Durch diesen Drang zur Rationalisierung ist der Pornofilm ein Reservoir für überlebten Trash. In ihm konservieren sich die verblaßten Tapetenmuster der 70er, die Bettdeckenkollektionen der 80er und namenloser Dosentechno. Die Musik in den Filmen und an den Ständen der Produktionsfirmen ist gemafreie Muzak für den Fahrstuhl zur Hölle. Das Erotikgeschäft, seine Manager und Stars sind ein unerschöpflicher Fundus von Billigästhetik. Das macht krisenresistent. Molly Luft, dickste Hure von Berlin und Puffmutter, begegnet der ökonomischen Krise mit grell geschminkter Gelassenheit. Die Rezession berühre sie überhaupt nicht, sie sei schon seit Jahren so billig, daß gerade jetzt ihre große Stunde komme: „Wir sind der Aldi-Puff.“

Nicht der Markt ist der Feind, sondern der eigene Körper. So haben viele Schönheitschirurgen ihren Stand hier aufgebaut. Ausschließlich aus Polen, der billige Osten ist ein wichtiger Pornozulieferer. Ist der Körper nicht mehr frisch genug, gilt es für die Stars, den Absprung zu schaffen. In die abseits gelegene Halle 21 b hat das Schicksal all jene hingeschwemmt, die den würdigen Ausstieg aus dem Geschäft mit den frischen Körpern nicht geschafft haben. Hier torkelt mir eine proseccoselige Mittvierzigerin in G-String, High-Heels und mit Glitter auf dem nackten Körper in die Arme und lädt mich in ihren Swinger-Club. Schnupperangebot: „Erste Mal umsonst, Freigetränk, Shuttlebus direkt hier vom Messegelände. Man sieht sich.“ Auf jeden Fall. Mit dem Shuttle-Bus von Sodom nach Gomorra. Michel Houellebecq wird noch sehr viel trainieren müssen, um die Tristesse solcher Szenen in all ihrer Wucht wiedergeben zu können.

Überhaupt, die Halle 21 b. Hier spielt die Branche am Abend Hollywood und verleiht ihre Porno-Oscars, die Goldene Venus. Allerdings gibt es ungefähr zehn mal so viele Preise zu verleihen wie in Hollywood. Einer ist für den besten Videokassettencover, was verblüfft, da allesamt schon aus einem Meter Entfernung so aussehen wie medizinische Schautafeln für exotische Hautkrankheiten. Einzig der männliche Pornostar Lexington Steel bringt einen Moment wirklichen Glamour auf die roten Teppichfliesen. Der Mann trägt den Künstlernamen Black Hammer. Zu Recht, denn sein Arbeitswerkzeug mißt 35 Zentimeter. Der Black Hammer steckt in einem wundervollen Anzug. Die Venus-Statue kann er nicht ganz ernst nehmen: sie mißt deutlich weniger als der Körperteil, dem er sie verdankt.

Der erotischste Moment dieser Fachmesse? Am Ende eines langen Promotiontages, nachdem die meisten Besucher die Ausstellungshallen schon verlassen haben, setzt sich das aufsteigende Sternchen am Pornohimmel Julia Taylor auf einen stapelbaren Stuhl zu ihrer Kollegin, die freundlich ihre müden Füße nimmt und sie ausgiebig massiert. Keine Dildospiele, keine Fesselrituale, nur eine Fußmassage. Doch selbst dieses Bild freundschaftlicher Zärtlichkeit ist kein wirksames Gegengift gegen die krude Bilderflut der vermarkteten Sinnlichkeit. Nach zwölf Recherchestunden im Land der Gummibäume, der künstlichen Fingernägel und der dickflüssigen Cum Shots vor depressionsinduzierenden Schrankwandalpträumen sehnt man sich weder nach ausschweifendem Oralverkehr im Stehen, noch nach zügellosem Missionarsverkehr im Liegen, sondern nach lebenslanger Enthaltsamkeit. Zwei Tage nach Eröffnung der internationalen Fachmesse für Erotik gibt der Dalai Lama eine Audienz in der Humboldt Universität. Vielleicht castet er bei dieser Gelegenheit auch neue Mönche.