Stephan Maus

Irvine Welsh: ‘Drecksau’ (FAZ)

Vom Band- zum Bücherwurm. Irvine Welshs Kraftakt “Drecksau” (FAZ, 21.08.00)

Irvine Welsh ist der Bad Boy des New Britain. Sein Roman “Trainspotting” dürfte für etwas mehr Ruhe in den schottischen Touristenbüros gesorgt haben und Nessy zwei, drei entspannte Saisons beschert haben. Mit Drecksau hat Welsh nun einigen Wirbel auf den schottischen Polizeikommissariaten veranstaltet.

Vorweihnachtszeit in Edinburg, in Schottland ist es kalt. In einer düsteren Nebengasse geschieht ein Mord. Im Polizeipräsidium steht eine Beförderung an und Sergeant Bruce Robertson ist einer der Anwärter auf den Führungsposten. Gleichzeitig darf dieser Ich-Erzähler als aussichtsreicher Kandidat für eine leitende Stelle unter den fiesesten Romanfiguren der Literaturgeschichte gelten. Sein Leben ist leer. Er füllt das Vakuum mit Drogen, Sex und bösen Psychospielchen. Regelmäßige Erniedrigung seiner Mitmenschen ist seine Leidenschaft. Im Präsidium entwickelt er machiavellistische Mobbingstrategien, um sich nach oben zu intrigieren. Im Hirn dieses Mannes geht es zu wie im Inhaltsverzeichnis eines psychiatrischen Lehrbuches. Er ist Rassist, Sexist, Schwulenfeind, Kommunistenfresser, vetternwirtschaftender Logenbruder, Alkoholiker im Dienst, Kokser in der Freizeit und umgekehrt. Das Blairsche Anti-Kriminalitätsprogramm Zero Tolerance wird zu seinem Lebensmotto. Die Welt an sich ist intolerabel. Irrenhaus, später.

Der Psychopath ist nicht auf den Mund gefallen. Seine Sprache kommt vom glühenden Rand der Paranoia. Seine Erzählung ist eine unflätige Haßtirade auf alles, was die Unverschämtheit besitzt, sich zu bewegen. Mit jedem Satz verteidigt Robertson die Lufthoheit über den schottischen Stammtischen. Allerdings hat der manische Robo-Cop auch Stilgefühl. Nennt sein Vorgesetzter eine Treppe „die Nabelschnur der Stadt, die Old Town und New Town verbindet“, so kommentiert er entnervt: „Nabelschnur, du meine Fresse! Es ist ne beschissene Treppe, du dämlicher Clown. T-R-E-P-P-E. Ich weiß, wo´s bei dem Mongo hakt; der will´n Scheiß-Drehbuchautor werden.“ Sergeant Bruce Robertsons hat eine andere Auffassung von Stil: „mein Darmtrakt fühlte sich so verschleimt an wie der Pelz von ner Nutte nach der Schicht im Saunaclub.“ Die Wurzeln von Robertsons Bilderwelt scheinen in Plattencovern von Heavy-Metal-Bands zu liegen: „ein Schrei zerreißt die kalte Luft und krallt sich wie Fingernägel in das Fleisch meines Rückens.“ Welsh läßt alle freiwillige Selbstkontrolle fallen und jagt seinen fluchenden, schwadronierenden, sich selbst an- und befeuernden Sergeant auf Teufel komm raus durch den Krimi-Plot. Dabei entfaltet er eine manische Energie, die den Leser immer tiefer in den tobenden Strudel zieht. Die stilistische Bandbreite dieser Suada ist groß, schwingt aber immer im Hochfrequenzbereich schriller Vulgarität. Wer demnächst in der Warteschlange vorm Fußballstadion noch eindrucksvoller kraftmeiern möchte, kann hier noch einiges lernen.

Auch körperlich ist Robertson am Ende. Während der Aufklärungsarbeiten verwahrlost er zunehmend. Sein Körper wäre ein Schlüsselmarkt für die kosmetische Industrie. Wenn er mal duschen geht, atmet sogar der Leser auf. Gefräßig wie ein Wurm bohrt sich Sergeant Robertson in den Unflat und den Dreck der Welt, doch auch in ihm steckt der Wurm. Bruce hat einen Bandwurm. Und je mehr die Handlung voranschreitet, desto größer und geschwätziger wird der Wurm in ihm. Er scheint sich von der Erzählung zu nähren, ergreift immer öfter das Wort, und seine Worte legen sich über den Text von Robertson, fressen sich in das Schriftbild hinein. Der Bandwurm mutiert zum Bücherwurm. Welsh vertauscht die Rollen: Der Wurm wird einem sympathischer als sein Wirt. Immer, wenn die chemische Attacke der Abführmittel kommt, hofft man, daß er sich gut festklammert.

Sein ganzes Leben lang hat Robert seine häßliche Kindheit verdrängt. Doch hier hat der Wirt die Rechnung ohne seinen Parasiten gemacht. Der Bandwurm entrollt Robertsons Vergangenheit und analysiert sie. Der alphabetisierte Anrainer des Güteläquators zeigt osmotisches Einfühlungsvermögen. Gegen Ende erzählt er ausführlich die verkorkste Jugend des verkoksten Cops. Resümee: Robertson ist die Frucht einer Vergewaltigung. Er wurde auf dem ungepflegten Grab seines Onkels mütterlicherseits von einem bestienhaften Triebtäter gezeugt. Sein Stiefvater war Bergmann und fütterte ihn abends mit Kohle. Aus Rache schubste er seinen Halbbruder Steve von einer Kohlehalde in ein Verließ, wo er unter Tonnen von Koks begraben wurde, guten Appetit. Bruce wird von zuhause verjagt und wächst bei einer alkoholabhängigen Oma auf. Seine erste Liebe ist gehbehindert. Ihr Schlüpfer verheddert sich ständig zwischen ihrem Oberschenkel und der metallischen Beinschiene. Während eines Schäferstündchens wird sie vor Robertsons ungläubig aufgerissenen Augen vom Blitz erschlagen (die Metallschiene!). Auf einem Golfplatz - vermutlich neben Loch 13. Erste Liebe tot, jegliche Liebe tot. Mit einer solchen Biographie kann man natürlich nicht Albert Schweitzer werden. Eine glaubhafte Romanfigur allerdings auch nicht mehr.

Welshs Wurm läßt den Roman vollends in eine Soap-Groteske umkippen. Der Text endet in comichafter Überzeichnung. Was dem guten, alten Bruce schon immer gefehlt hat, ist Zuneigung, Zärtlichkeit und ein nicht ganz so veralgter Gen-Pool. Dem Roman liegt ein abgegriffenes biographische Schema zugrunde, in dem die ursprüngliche Unschuld des Helden so lange von Schicksalsschlägen malträtiert wird, bis sie sich in grenzenlose Widerwärtigkeit wandelt. So unkompliziert ist Seelenalchimie. Oder mit den Worten Robertsons: „Ts, ts, ts, wie es in den Comics immer heißt.“ Welsh zeigt eine sehr lebendige, witzige, bunt changierende, gärende, schwärende und glaubhafte Drecksau an der Arbeit. Aber anstatt sie als monströses Energiebündel existieren zu lassen, versucht er, ihr mit Hilfe einer psychoanalytischen Bauklötzchenkonstruktion einen brav menschelnden Kern unter die harte Schale zu implantieren. Vulgarität mag in Ordnung gehen, Vulgärpsychologie ist inakzeptabel.

Beschreibt Welsh seinen Helden anfangs beinhart in all seiner Widerlichkeit, so gibt sich der Dichterfürst der Drogengeneration gegen Ende seines Romans windelweich. Robertson löst sich in Tränen und Selbstmitleid auf und muß Belanglosigkeiten schluchzen: „Es ist so schrecklich, daß wir einsam sterben, aber das ist nicht so schlimm, wie einsam zu leben …“ So what, Doktor Schlau! hätte der Bruce Robertson von Seite 50 kommentiert. Irgendwann läuft also auch die hartgesottenste Psyche heiß, dreht durch und knickt ein. Nachdem Robertson unzählige Menschen ins Unglück gestürzt hat, geht er zum Schluß wie durch eine höhere Gerechtigkeit gerichtet selbst zugrunde. Bad Boy Welsh ist also Moralist. Bei all dieser Gefühlsduselei am Ende des Romans hätte sich Welsh etwas mehr an der Weltsicht seiner Figur orientieren sollen: für Sergeant Robertson waren Gefühle immer „Klippen, die es zu umschiffen gilt, und jede, gegen die du schrammst, schlitzt dich wieder etwas mehr auf, und es warten immer neue am Horizont.“ Entweder war es Welsh schließlich zu unheimlich, ein Monster unmotiviert in die Literatur entlassen zu haben, oder er glaubt wirklich an eine solche Seifenoper-Psychologie. Es sei denn, alles ist nur ein großer Spaß? Dann ist ja gut.

Welshs Roman kennt keinen Mittelweg. Er springt von gnadenloser Brutalität zu kitschiger Weinerlichkeit und mündet schlußendlich in einer Weltsicht, der einzig die Liebe noch wie ein leuchtender Rettungsring im Schlammstrom unseres Jammertals hienieden leuchtet. Die Mordwaffe in den Eröffnungsseiten ist ein Klauenhammer: Drecksau ist Vorschlag-Hammer-Literatur. Sie katapultiert jedem Hau-den-Lukas den Hut in hohem Bogen über´s ganze Kirmesgelände: Geisterbahn, Lebkuchenherzen, Zuckerwatte. Lustig, laut, ekelhaft, kitschig, bunt, sentimental. Richtig gefährlich kann der Roman allerdings für Leser mit mimetischem Sprechverhalten werden. Verstanden, Muppetköppe!?


Irvine Welsh: Drecksau. Roman, Kiepenheuer und Witsch, Köln 1999, 456 S., Paperback, 28 DM