Stephan Maus

Werner Fritsch: ‘Jenseits’ (FR)

Franz Biberkopf auf MTV. Werner Fritschs Roman “Jenseits” (FR, 01.07.00)

Es ist Fasching in Süddeutschland. Der Narr wird König, die Hochkultur knickt mit ihrem Kothurn um und landet im Schmutz. Kreischen, Brüllen, Raufen. Zwischentöne gibt es erst wieder ab Aschermittwoch. Der Rausch verzerrt die Wahrnehmung, der Reigen der Grimassen wird immer zügelloser.

Ein Maskierter bedroht einen Mann mit einem Wehrmachtsrevolver. Der Bedrohte heißt Wolfram Sexmachine Kühn, auch Namen sind Kostüme. Sein Gegenüber trägt eine Hitlermaske, „wo es in Karlsbad zum Kaufen gibt.“ Kühn steht unter dem Verdacht, seine Frau Cora, die Provinzhure, ermordet und ihr die Brüste abgeschnitten zu haben. Cora wurde tot auf dem elektrisch animierten Bett des Zuhälters Klostermeyer gefunden, auf und abwippend in ihrem Blut. Über ihr hing ein abstrakt gehaltener, grellroter Akt vom Maler Johannes Kannix Kopf, dem Cora Modell gesessen hat. Wer ist dieser Hitler? Wer zielt hier auf Wolfram Sexmachine Kühn? Der Zuhälter? Der Maler? Oder ist es Coras Konkurrentin im Provinzpuff und Wolframs Geliebte Marilyn, die thailändische Transsexuelle? Auch das Geschlecht ist nur eine Maske. Im Angesicht der tödlichen Bedrohung sieht Kühn noch einmal sein Leben Revue passieren. Und was er sieht ist „Jenseits“.

Werner Fritschs Erzählung läßt sich als eine Groteske lesen, deren wilde Arabesken auf dem Grenzstreifen zwischen Leben und Tod, Rausch und Klarsicht, Kunst und Kitsch wuchern. Wie ein Projektor ist die Mündung des Trommelrevolvers auf das Kopfkino des Erzählers Kühn gerichtet, in dem nun die wirklich allerletzte Vorstellung gegeben wird: Ein hektisch geschnittener Film von Mord und Totschlag, Sex and Crime, „und Schwarz, cut“. Als Soundtrack bekommt das Innenohr eine Murder Ballad zu hören. Ein dem Text vorangestelltes Zitat von Robert Johnson gibt den Ton an: „Blues fallin´ down like hail … There´s a hellhound on my trail.”

Fritsch macht das russische Roulette zum Erzählprinzip: das Klicken der leeren Patronenkammern treibt den Text voran, und immer wieder fragt sich der atemlose Erzähler, ob´s ihn nicht vielleicht doch schon erwischt hat oder ob alles doch nur ein Hirnspuk ist, „ein Hirnspuk mit Hitlermaske“. 1001 Bilder pro Sekunde, keine Zeit für Punkt und Komma, noch nie war Scheherazade in einer ähnlichen Bedrängnis, „there´s a hellhound on my trail.“

Fritsch rührt kraftvoll im Bodensatz von Sprache, Kultur und Psyche. Klischees aus Genre-Filmen und populärer Literatur werden zitiert, um durch eine sprachlich originelle Bearbeitung zu einem überraschenden Leben wiedererweckt zu werden. Hin und wieder hebt der Vampirmythos hinter einer Dracula-Faschingsmaske seinen Kopf und gibt ein Bild für die Ästhetik des Textes. „Jenseits“ nährt sich von sehr Diesseitigem, sehr Trivialem und sehr Heterogenem: „Und ich seh Buddha an und denk Hoffentlich komm ich nicht auf Horror und seh Frankenstein bin ja zusammengesetzt aus sovielen Menschen wie ein Fernseher wo alle Programme gleichzeitig laufen Oder seh Dracula bin ja einer wo alles aussaugt was einen Rock anhat oder seh Werwolf bin ja ein Raubtier im Grunde wenn ich einen Polizisten seh Oder ich seh Hitler gar in Buddha.“

Am erstaunlichsten ist, wie es Fritsch gelingt, ein dermaßen absurdes und albernes Sammelsurium von halbseidenen bis halbgaren Versatzstücken (Hitler, thailändische Transsexuelle, verstümmelte Hure, Sexmachine, Russenmafia!) zu einem noch nie gelesenen und sehr lesenwerten Ganzen zu fügen. Eine deftig-brutale Wohltat bei all dem harmlosen Neuen Dahererzählen der Neuen Mitte in der Neuen Berliner Republik: „Direkt Dynamit Der Kracher schlechthin Ein Gotteshammer pur Wenn wer nur so reell wär im Kopf und alles real aufschreiben tät wie er wie es ist Habe die Ehre Ich ziehe den Hut.“

Fritsch war so reel im Kopf, ich ziehe real den Hut, habe die Ehre. Gewaltphantasien, Brunftgehabe und Kraftmeiereien werden von poetischen, manchmal auch religiösen Visionen abgelöst, die ebenso wie Sexmachine Kühn und das elektrische Zuhälter-Bett unter Hochspannung stehen: „Wie wenn ein Habicht vom Gewitterregen naß auf einer Stromleitung plötzlich in einem Funkenmeer steht Wenn es aus ihm direkt Feuer haut aus den Flügeln und aus der Brust.“ Der süddeutsche Dialekt mit seiner elliptischen, konvulsiven Syntax gibt dem inneren Monolog Kühns seinen energiegeladenen Schwung und schafft eine komische Distanz zu diesem Bavaria-B-Movie. Es ist Fasching in Süddeutschland, und bei Suhrkamp schreibt man Bayrisch.

In der Sexmachine Kühn ist oftmals Kurzschluß. Urheberrechtlich bedingt charakterisiert sie jedoch vor allem der Groove und der Funk von James Brown, get up. Fritsch inszeniert eine derbe, rhythmische Suada, die von Binnenreimen Assonanzen und Wortspielen durchzogen ist und manchmal sogar für einige Zeilen in gleichmäßig alternierendes Versmaß kippt: „die Kneipen wird von Stund zu Stund bei Totensuppen mehr zu einem Karussell zu einem ewigen.“ Die längeren Absätze bauen einen dynamischen Spannungsbogen auf, der immer in einer Kadenz ausklingt. Sauber kalkulierte und genau plazierte Einschübe verbauen den manischen Redefluß und lassen verschachtelte Rhythmen entstehen: „Im August ist mir ausgerechnet der Stiersdorfer der Staatsanwalt da in der damaligen Tiffany- und jetzigen Gnadenlosdiskothek in Tirschenreuth über den Weg und in die beim Sweet-Home-Alabama-Tanzen Zufall Zufall ausgestreckte Hand gelaufen und irgendwie ungeschickt zu Fall gekommen.“ Irgendwie geschickt kommt hier der Satz durch den Einschub fast zu Fall:Zufall + Zufall = zu Fall.

Aus dem Prinzip Schwadronieren entwickelt Fritsch eine raffiniert durchkomponierte Kunstsprache. Vielleicht gibt es eine entfernte Verwandtschaft mit Franzobel. Stilistisch wie inhaltlich dominieren Dreierkonstellationen den Text. Kühn ist hin- und hergerissen zwischen Cora und Marylin. Ist er mit Cora zusammen, muß er sie mit dem Zuhälter Klostermeyer teilen. Ist er mit Marylin, schimmert mit den Narben ihrer Geschlechtsumwandlung immer auch ihr ursprüngliches Geschlecht und die dazugehörige Person Merlin hindurch. Selbst Kühns Worte scheinen in einer Dreiecksbeziehung zueinander zu stehen, indem sie sich vom ersten Satz an immer wieder zu einem beschwörerischen Dreierrhythmus gruppieren, der auch auf andere Satzstrukturen abfärbt: „Druck ab Druck ab Druck ab.“

In seiner Jugend hätte Wolfram Sexmachine eigentlich „auf Teufel komm raus“ Kirchenmaler werden sollen. Einen Höllensturz hätte er über den Altar malen sollen. Aber der ihn protegierende und nach ihm gierende Pfarrer ist dann leider gestorben. Kühn wurde Metzger, Zuhälter und Sexmachine. Aber in seinen letzten Minuten malt er sich und seinem Leser einen grandiosen Baconschen Höllensturz unters Schädelgewölbe: „Ach wenn ich Maler worden wär statt Metzger Alles alles alles was die Leut so sehen als letzten Film kurz vor dem Abkratzen wär in mein Bild gekommen in den Höllensturz von Dornbach Kopf.“ Der Höllensturz von Dornbach Kopf ist original ein Meisterwerk geworden, „Tod und Teufel“. Wolfram Sexmachine Kühn ist erlöst.


Werner Fritsch: Jenseits. Erzählung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2000, 72 Seiten, Klappen-Broschur, 29 DM