Stephan Maus

Nadine Gordimer: ‘Ein Mann von der Straße’ (SZ)

Julie von Arabien - Nadine Gordimer bemüht sich um Street Credibility: “Ein Mann von der Straße” (Süddeutsche Zeitung, 02.02.02)

Julie Summers stammt aus der südafrikanischen Oberschicht, sieht sich aber eher als progressive Bohémienne, arbeitet als PR-Frau in einem Kommunikationsunternehmen, frequentiert das Hipster-Café „L. A.“ und fährt ein papafinanziertes Auto. Letzteres bricht eines Tages nach den Tüv-geprüften Gesetzmäßigkeiten stereotyper Prosadramaturgie auf offener Straße zusammen. Szenenwechsel. In einer Kfz-Werkstatt kriecht der arabische Schwarzarbeiter und illegale Einwanderer Abdu unter einem Auto hervor, und Julie verliebt sich ohne Startschwierigkeiten in den ölverschmierten „Prinzen aus dem Morgenland“.

Von nun an läuft der bemüht zusammengeschraubte Konfliktstoff wie geschmiert. Das übersättigte Wohlstandskind führt den ehrgeizigen Zuwanderer in ihre Luxuswelt ein, wobei Nadine Gordimer alle Szenen sozialbewegter Prosa abhakt: Multikulturelle Bettszenen, Abdus Einführung in Julies Freundeskreis samt Instant-Karikaturen der wohlgenährten Oberschicht-Bohème und psychologischen Scherenschnitten, Vorstellung des armen Illegalen bei der internationalen Hochfinanz am Rande von Papas Swimmingpool, erniedrigende Behördengänge, und, und, und. Nach halber Romanstrecke folgt eine technische Plotwende, und der illegale Abdu wird ausgewiesen. Julie heiratet schnell ihr männliches Aschenbrödel und folgt dem neuen Gatten in sein Heimatdorf in einem muslimischen Drittweltland, wo Abdu sich als Ibrahim ibn Musa zu erkennen gibt. Zuhause ist die Identität wieder echt, dafür aber das Stromnetz schlechter.

Auch am muslimischen Rande aller Zivilisation hakt Nadine Gordimer wieder alle möglichen Szenen aus dem Bilderbuch der sozialkritischen Einfühlsamkeit ab: Julie mit und ohne Tschador, mit und ohne aufreizendem Dekollete, Julie unter den langsam immer wärmer werdenden Blicken der arabischen Großfamilie, Julie bei praktizierender Entwicklungshilfe, und, und, und. In Arabisch macht die Weiße schnell Fortschritte, doch Abdu fühlt sich im Kokon seiner Großfamilie ebenso eingepfercht wie Julie im dekadenten Kreis ihrer superreichen Eltern. Abdu wandert schließlich in die USA aus, während Julie bei seiner Familie bleibt und das Wüstendorf sprachlich kolonialisiert, indem sie allen Bewohnern Englisch beibringt.

Die legale Nestflüchterin funktioniert sogar als Katalysator für gute Familienverhältnisse: unter ihrem heilsamen Einfluß finden gar die Verstoßenen wieder zurück in den heiligen Kral der Blutsbande. Am flirrenden Rande der uralten Wüste findet die PR-Dame zu staubiger, aber existentieller Eigentlichkeit. Hier beginnt endlich das wahre Leben mit Sandsturm, Ramadan und Patriarchat. Fazit: Im Islam muß die Frau zwar verschleiert Zwiebeln schälen, vertrocknet dafür aber mit sechzig nicht in einer trostlosen Altersresidenz im Speckgürtel einer Millionenmetropole. Auch wenn sie so zurückgezogen leben müssen wie die lichtkranke Hannelore Kohl selig, haben die muslimischen Frauen eigentlich erstaunlich viel zu melden. Die Scheidungsrate in der Wüste ist ebenfalls spürbar niedriger als in den noblen Villenvororten von Südkalifornien oder Johannisburg.

Nadine Gordimer hat 1991 den Nobelpreis für Bahnhofsliteratur bekommen. Ihr Roman „Ein Mann von der Straße“ changiert zwischen einfallsloser Sozialsatire und kitschiger Selbstfindungsodyssee mit Paris-Dakar-Appeal. In der ersten Hälfte des Textes kolportiert die Autorin unter konventionellstem Einsatz aller klassischen Dramaturgiekniffe, was so alles in Südafrika nicht rund läuft. Man ahnt: Rassismus ist im Spiel. Aber auch die Stichworte „westliche Überflußgesellschaft“ und „Migrationsströme“ finden ein wortreiches Echo.

Im zweiten Teil des Romans liefert Gordimer Impressionen zur islamischen Gesellschaftsstruktur aus der Perspektive einer freiwilligen Einwanderin. Der Inhalt dieses Romans wird in jeder Reportage aus den betreffenden Ländern informativer abgehandelt, die mechanisch klappernde Form findet in jeder Daily Soap mindestens ebenso einfühlsam und effektheischend Verwendung. Die Figurinenaufstellung mit ihren stereotypen Kontrasten ist so starr wie beim Tischfußball. Auf jeden arabischen Papa kommt ein westliches Familienoberhaupt, jede muslimische Matrone findet ihr dekadentes Pendant an einem kalifornischen Pool. Was Abdus Autohändler-Onkel in der arabischen Wüste, ist Julies Frauenarzt-Onkel in der südafrikanischen Metropole.

Gordimer strukturiert ihren Text wie eine Musterschülerin aus einem Creative-Writing-Seminar, die mit naiver Begeisterung die abgegriffenen Figurenschemata klassischer Märchen entdeckt. Jeder Charakter wird mit vollständiger Gebrauchsanweisung geliefert. Verglichen mit Gordimers Karikaturen aus der südafrikanischen Oberschicht und der südafrikanischen „Tafelrunde“ der jugendlichen Kaffeehaus-Bohémiens sind Frodos Gefährten aus dem „Herrn der Ringe“ von Proustscher Feinpsychologie. Ein einziger Grundkonflikt wird über den gesamten Text hin wiedergekäut: die Scham über die eigene soziale Herkunft und die Angst vor dem urteilenden Blick des Anderen.

Der Migrant Abdu ist schlicht als egoistischer, charakterloser Wirtschaftsflüchtling gezeichnet, der Julie nur zur Verwirklichung seiner Karriereträume benutzt. Der „arme Teufel“ kennt nur ein Begehr: wirtschaftsflüchten. Sein miserables Sein bestimmt sein bedauernswertes Bewußtsein, Zärtlichkeit darf er nicht zulassen, denn sie bedeutet nur Ballast auf seiner Jagd nach der Golden Visa Card. Existenzangst essen Liebe auf. Abdus Charakter ist so variationsreich wie das Veranstaltungsprogramm der Sahara. Es bleibt unklar, warum sich die junge Frau gerade von diesem eiskalten Materialisten angezogen fühlt, wo sie doch so sehr auf der Suche nach den wahren Werten ist; - allein sein sparsam dosiertes und machiavellistisch eingesetztes Lächeln kann es nicht sein: „Er hatte inzwischen erkannt, welche Macht sein besonderes Lächeln besaß, sie hatte es ihm bewußt gemacht, so daß etwas Unbewußtes, das den Impuls des Lächelns begleitete, inzwischen zur Taktik geworden war, die er einsetzte.“ Die Wunderwaffe des Wüstensohnes.

Warum Julie aus ihrem glitzernden familiären Oberschichtkorsett in die archaisch-arabische Großfamilienhaft flüchtet, bleibt ein weiteres psychologisches Rätsel, dem nachzugehen man nach dreihundert unmotiviert zusammengeschraubten Seiten keine Lust mehr verspürt. Die Eröffnungsszene dieses Textes in einer Kfz-Werkstatt ist symbolisch für seine Machart: Der Roman ist ein wackeliges Gesellenstück liebloser Plot-Mechanik.

Einzig Nadine Gordimers schnörkelloser, fast protokollarischer Stil könnte ihrem Text noch einen gewissen Reiz von sandgestrahlter Kargheit verleihen, der noch recht gut zu der Wüstenszenerie zu passen scheint. Doch das überall durchschimmernde Schnittmuster konventioneller Konstruktion, die nach den Gesetzen eines öden Realismus unbeholfen das echte Leben abbilden will, verleidet einem schnell wieder jedes aufkommende Lesevergnügen. Einmal mehr drängt sich der Verdacht auf, die schwedische Nobelakademie würfe jährlich mit königlich gefiederten Dart-Pfeilen auf eine aktuelle Weltkarte, um anschließend im Touristenbüro des markierten Landstrichs einen engagierten Praktikanten nach einem interessanten Lesetip mit Lokalkolorit zu fragen.

Unter den zahllosen Scheinidentitäten des Migranten-Prototypen Abdu aka Ibrahim ibn Musa verbirgt sich seine sehr traurige Wahrheit: Er ist ein Mann von der Lindenstraße.


Nadine Gordimer: Ein Mann von der Straße. Roman, Aus dem Englischen von Heidi Zerning, Berlin Verlag, Berlin 2001, 271 Seiten, 20,35 Euro