Stephan Maus

Gerhard Henschel: ‘Die Liebenden’ (SZ)

Die Liebe in den Zeiten der Märklin-Kataloge - Gerhard Henschel präsentiert einen Trumm aus dem Steinbruch der Geschichte: “Die Liebenden” (SZ, 07.03.03)

Anfang des Jahres 2000 besuchte der Satiriker Gerhard Henschel eines jener Literaturseminare, die der Schriftsteller Walter Kempowski regelmäßig in seinem Landhaus „Kreienhoop“ bei Hamburg veranstaltet. Das Seminar beim geduldigen Archivar am Echolot muß ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, denn zwei Jahre später gibt Henschel eine überwältigende Archäologie der deutschen Nachkriegszeit heraus. Seine großartige Familiensaga in bearbeiteten Originalbriefen steht ganz in der Tradition der dokumentarischen Collagen Kempowskis.

Mit ungeheurem Materialreichtum zeichnet Henschel eine eindringliche Privatgeschichte der Bundesrepublik. Der dokumentarische Briefroman deckt mit mikroskopischer Detailgenauigkeit die Epoche von 1940 bis 1993 ab. Eine orchestral kollagierte Ouvertüre aus zahlreichen Briefen aus der Feder unterschiedlicher Mitglieder der Familien Lüttje und Schlosser mündet schließlich nach gut hundert Seiten in das monumentale Duett, das die Liebenden Richard und Ingeborg Schlosser, geborene Lüttje, über 50 Jahre hinweg intonieren.

Henschel läßt die Dokumente unkommentiert für sich sprechen. Seine Bearbeitung beschränkt sich auf Kürzung, Verdichtung und intelligentes Arrangement des Materials. Henschel hat einen bewegenden und stilistisch überzeugenden Schatz aus den Archiven gehoben und breitet ihn in seiner ganzen Fülle aus: Neben weit über tausend Briefen liest man noch Sterbeurkunden, Operationsberichte, Beschwerdebriefe an Versicherungen, Gewinnmitteilungen von Weinbrandlotterien, juristische Kleinkriegskorrespondenz und Menükarten von Hochzeitsfeiern. Henschel montiert diese Dokumente der verwalteten Welt in den narrativen Fluß der eigentlichen Korrespondenz, um besonders intensive Momente zu markieren, um Akzente zu setzen oder einzelne Lebensabschnitte effektvoll abzuschließen. Fast unmerklich, dafür aber um so wirksamer strukturiert er sein Material.

Äußerst geschickt weiß Henschel die Polyphonie des Briefromans für sich zu nutzen. Im richtigen Moment erhellt die ordnende Hand des Autors eine dunkle Seite einer Biographie mit Hilfe der Außenperspektive einer Nebenfigur oder setzt einen Kontrapunkt im Notenverlauf zwischen den Lebenslinien. Er spielt mit der ganzen strukturellen Bandbreite des Briefromans. Den Briefen selbst beläßt er ihren ursprünglichen Duktus, der ein einmaliges Zeugnis der deutschen Sprache im Wandel der letzten fünfzig Jahre gibt. Nach den anfänglichen Kriegswirren bricht die offizielle Geschichte nur sehr vereinzelt in die Korrespondenz der Liebenden herein. Die Spiegel-Affäre oder Gustav Lübbes Eseleien tauchen nur ganz am Rande auf. Die 68er-Bewegung wird keines Wortes gewürdigt, doch man spürt sie indirekt im neuen Tonfall, den die nachkommende Generation in ihren Briefen anschlägt. Es scheint, als hätten die Liebenden ein für alle Mal genug von der Geschichte und hätten nach Kriegsende endgültig beschlossen, sich ins Private zurückziehen. Auch diese Haltung ist symptomatisch für eine Epoche.

Mit der ergreifenden Lebens- und Liebesgeschichte von Richard und Ingeborg Schlosser entsteht eine monumentale Saga der Bundesrepublik. Der Werdegang ihrer Beziehung verläuft parallel zum Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands. Im Schicksal des jungen Flak-Helfers Richard und der angehenden Fremdsprachenkorrespondentin Inge spiegeln sich sämtliche Sehnsüchte, Ängste und Obsessionen der jungen Republik. Richard ist ein Flüchtlingskind aus Ostpreußen. Der Pfarrerssohn lernt die Lehrertochter schon auf dem Gymnasium in Norddeutschland kennen. In den letzten Kriegsmonaten gerät er in russische Gefangenschaft, aus der er schwer krank entlassen wird. Sein Leben lang leidet er an Tuberkulose und ihren Folgen. Inge und Richard werden erst in den Wiederaufbaujahren ein Paar. Man sieht sie schmachtende Blicke über den Nierentisch austauschen und am Stadtrand Herzen in Baumrinden schnitzen.

Die Liebe hat einen schweren Stand in den Zeiten der Wohnungsknappheit. Die Zimmerwirtinnen sind strenger als die prüdesten Äbtissinnen. Der Gipfel des Liebesrausches sickert aus gemeinsam genaschten Weinbrandpralinés. Richard büffelt für sein Maschinenbaustudium, Inge findet ein, zwei Jobs als Sekretärin. Er bekommt sein Diplom, sie ihr erstes Kind. In jungen Jahren sind die beiden ein sehr ergreifendes Paar. Doch als bei Richard Tuberkulose diagnostiziert wird, verbittert er im Kampf gegen die Krankheit und in seinen verbissenen Bemühungen um eine Kriegsversehrtenrente. Aus den Lungensanatorien schickt Richard seine ersten grantigen Episteln, die sich im Laufe der Jahre zu immer mürrischeren Tiraden steigern werden. Die TB frißt ihm Kavernen der Paranoia ins Hirn. So passiert es, daß er die Formblätter des Arbeitsamtes auf Stil und Orthographie hin rezensiert. Aus dem beeindruckenden zeitgeschichtlichen Dokument wird nun die Chronik einer langsam zerfallenden Beziehung. Eine große Liebe bekommt unmerklich die Motten.

Richard und Inge bekommen immer mehr Kinder, erwirtschaften sich wechselnde Eigenheime mit wachsenden Doppelgaragen und integriertem Spanienurlaub und entfremden sich doch immer mehr. Der kriegsversehrte Diplom-Ingenieur tüftelt an der Wiederbewaffnung der neuen Republik. Der nachdenkliche Mann wird hoher Beamte im „Amt für Wehrtechnik und Beschaffung“, steigert sich manisch in den Ausbau des gemeinsamen Heimes hinein, brütet über Märklin-Katalogen und verbastelt seine gesamte Freizeit im Hobbykeller, bis man sich fragt, in welchem Schraubstock sein Bastlerhirn nun eigentlich klemmt. Das perfekte Wohnen wird zur Familienobsession. Auch dies läßt sich als kollektive Psychose einer Generation von Trümmermenschen und Flüchtlingskindern lesen: Wem einmal Haus und Hof abgebrannt sind, läuft Gefahr, den Rest seines Lebens Unkraut jätend im Vorgartenmulch zu hocken.

Richard wandelt sich zur schrecklichsten Ausprägung des bundesrepublikanischen Hobbykellerminotaurus und Blumenrabattenberserkers. Die deutsche Gartenbauneurose ist noch gar nicht gründlich genug erforscht. Irgendwann ist die Kindeserziehung abgeschlossen, der Garten perfekt und die Ehe kaputt. In diesem Moment schreibt Inge ihrem Mann den Brief ihres Lebens. In einem wütenden Befreiungsschlag liefert sie ein metaphorisches Resümee einer ganzen Existenz: „Heute abend, Donnerstag, habe ich Dich bei Deiner Kompostarbeit eine ganze Weile unbemerkt beobachtet. Ich glaube, daß das, was Du da machst, mit normaler und richtiger Gartenarbeit nur noch wenig zu tun hat. Du huldigst einem Götzen namens ´Kompost´, der sich meinem Verständnis entzieht.“ In diesem Leben vermodert die Gegenwart, um Dünger für eine Zukunft zu produzieren, die ihrerseits nur für eine noch fernere Zukunft kompostiert werden wird. Richard scheitert an seiner eigenen protestantischen Strenge und geht im Alkohol unter. Die Liebenden machen die bittere Erfahrung, eine Existenz im Trümmerdeutschland aufgebaut zu haben und mit sechzig vor den Scherben ihrer Ehe zu stehen. Der Text ist ein erschütternder Abgesang auf die Märklin-Familie.

Henschel hat großes Glück mit seinen Korrespondenten. Beide sind ausgezeichnete Briefschreiber. Ihr Stil ist einfach, klar und präzise. Richards Prosa ist von trockenem Protestantismus geprägt, Inge schreibt genau so, wie man sich das Wirtschaftswunder-Deutsch immer vorgestellt hat: immer gut gelaunt und reizend, sehr patent und akkurat zurechtgezupft. Bis ihr am Ende der gestärkte Rüschenkragen platzt. Die ungeheure Komplexität dieser Biographien ist beeindruckend. In einem großartig verflochtenen Panorama ziehen die Lebensgeschichten der Familien Schlosser und Lüttjes mit Freud und Leid an einem vorbei. In diesen gut 750 Seiten ist einfach alles drin. Es wäre zu leicht, die Figuren eines falschen Lebens zu bezichtigen. Mit jedem Korrespondenten weitet sich der Blickwinkel auf die Biographien.

Das Scheitern der Liebenden ist zu eng mit der Geschichte verwoben, um einem Einzelnen Schuld zusprechen zu können. In den weit verzweigten Familien findet sich immer jemand, der bereit ist, zu verstehen und zu verzeihen. Diese Bereitschaft zum Verzeihen ist sehr bewegend. Bemerkenswert ist auch die fast schon mönchische Zurückhaltung, die der bissige Satiriker Henschel angesichts dieses Monuments von langsam Amok laufender Spießigkeit praktiziert. „Die Liebenden“ bergen nicht zuletzt die Geschichte einer asketischen Entsagung des meinungsfreudigen Schriftstellers Henschel, der sich zugunsten seines Materials gänzlich zurücknimmt. Ebenso erstaunlich ist der Reichtum an wahren Gefühlen, tiefer Zärtlichkeit und atemberaubender Trauer, der noch hinter dem kleinbürgerlichsten Gartenzwergbataillon auf den geduldigen Archivar wartet. Die Lektion dieses Buches könnte lauten: King Lear, Richard III. und Nora warten im Hobbykeller.

Ihr ganzes Leben träumt die Fremdsprachenkorrespondentin Inge von der Veröffentlichung ihrer Gedichte. Sie schickt ihre Texte an die unterschiedlichsten Verlage. Alle lehnen ihre Lyrik ab. Auch der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe. Nun veröffentlicht eben dieser Verlag ihre gesammelten Briefe und gibt damit sicherlich das interessanteste, ergreifendste und formal radikalste deutsche Buch des letzten Jahres heraus. So verhilft Gerhard Henschel Inge Schlosser nach einigen Jahren doch noch zu poetischer Gerechtigkeit. Es mag auf den ersten Blick vermessen klingen, diesen Trumm aus dem Steinbruch der Geschichte als Roman zu bezeichnen. Doch schon nach einigen Seiten wird klar: dieses geballte Rohmaterial entfaltet eine epische Dynamik und eine poetische Wucht, mit denen sich nur die wenigsten Fiktionen messen können.


Gerhard Henschel: Die Liebenden. Roman, Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 752 Seiten, 25,90 Euro