Stephan Maus

Sibylle Berg: ‘Ende gut’ (SZ)

Madame Berserker singt den Blues - Von Anfang an gut: “Ende gut” von Sibylle Berg (SZ, 14.02.05)

Es steht nicht gut um dieses Land. Harz IV? Gefährlicher Rentnerüberhang? Daisys Trauer um Mooshammer? Zwangseinführung der Gen-Datei für wildpinkelnde Königspudel? Kinkerlitzchen! In Chemnitz grassiert Ebola. Erfurt hustet Blut. In Weimar brechen Pusteln auf. Das hätte es in der DDR nicht gegeben. In Dings, Gießen oder was, geht die Pest um. Durch Schwabing stakst die Vogelgrippe. Oder ist’s Sabine Christiansen? Hamburg steht bis zum Hals unter Wasser. Sofas mit komischen Dreiecken auf den Bezügen stoßen gegen die rostenden Kirchturmglocken. Links gibt’s nicht mehr. Oben bröckelt. Unten kippelt. Rechts schmilzt ab. Und nicht nur in Deutschland. Auch rheinaufwärts ist die Hölle los. Die Schweiz? Pfeift aus dem letzten Käseloch. Holland ist gestern Mittag um halb eins für immer weggepoldert. Neuseeland ist abhanden gekommen, man weiß nichts Genaues. Wir vermuten, ein Schwarm fall-out-mutierter Kiwis hat die ganze Insel ins Schlepptau genommen und den strudelnden Styx hinuntergezogen, last exit Hades und auf Nimmerwiedersehen. Vorausgesetzt, diese verdammten Kiwis können überhaupt schwimmen. Ornithologie hat uns noch nie interessiert.

Ornithologie hilft uns jetzt auch sowieso nicht mehr weiter. Was wir ganz dringend brauchen, ist aktiver Katastrophenschutz. Und den leistet dankenswerterweise Sibylle Berg mit ihrem Roman „Ende gut“. Die Durchleuchtung der Katastrophe mit Röntgenblick ist die erste Rettungsmaßnahme. Mit diesem Roman hat der deutschsprachige Teil der Welt nun endlich sein eigenes Tsunami-Warnsystem. Sage nachher keiner, er sei nicht gewarnt worden. Sibylle Berg hat den allgegenwärtigen Alarmismus und den mit geheucheltem Mitleid schlecht verbrämten Katastrophenvoyeurismus zusammengerührt und alles auf hoher Flamme überkochen lassen. Sie hat alle Fluten, Seuchen, Beben und Eruptionen der letzten Jahre gesammelt und läßt sie nun noch einmal konzentriert auf Deutschland und den Rest der Welt niedergehen. Mal schauen, was passiert. Fest steht: Auch das Innere der Menschen ist ein schweflig-schwärend’ Katastrophengebiet. Sibylle Berg hat als Erste die Katastrophe als Lebensform und Erzählprinzip erkannt. Die Welt geht unter. Und das ist gut so. Denn sie war Schrott.

Bergs Heldin ist „um die 40“, und damit fängt das ganze Elend und der wohl definitive Roman über dieses Lebensalter auch schon an. Man hört, über die penetranten Vierzigjährigen sei noch so Einiges in Mache. Also besser gleich alle Mann den Griffel fallen lassen, denn besser geht’s eh nimmer. Die Autorin reißt ihre sumpfende Erzählerin aus einem lethargischen Nihilismus und schickt sie auf Studienreise durch die Apokalypse. Seit dem vom dreißigjährigen Krieg gebeutelten Barock und Grimmelshausens „Simplicissimus“ weiß man in Deutschland das Road Movie als ein willkommenes Mittel zur Bestandsaufnahme des Weltuntergangs zu schätzen. Von einer namen- und gesichtslosen Stadt aus – Wuppertal, Pfaffenhofen, Schwelm, grad egal - geht bei Berg die Fahrt über zahlreiche trostlose Stationen und durch ausnahmslos verkommene Gesellschaftsschichten hinauf in den hohen Norden, nach Finnland.

Vorbei an brennenden Pimky-Zentralen und qualmenden Deichmann-Outlet-Centern, explodierenden Frauenparkplätzen und berstenden Kundenklos. Gut so, alles muß weg. Oft wurde versucht, unsere madige Speckgürtel-Republik in all ihrer grenzenlosen Trost- und Ruchlosigkeit auszumessen. Selten bis nie gelang es so überzeugend wie in Bergs Roman. Die schlecht überschminkte Existenzangst in den Gesichtern der Kassiererinnen, die neonbleichen Todeszonen der Einkaufcenter auf der „Grünen Wiese“, die ungezählten Höllenkreise der Baumärkte samt ihrem infernalischen Kundenstamm, ja, die blasierte Ungezogenheit des oberfrechen Herrgotts höchstpersönlich: Die Erzählerin hat alles gesehen und daran gelitten.

Bei jedem Schritt berserkert die Heldin, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Es ist ein scharfer Adlerschnabel, der immer präzis da hinhaut, wo’s am meisten wehtut. Aber manchmal eben auch dort hin, wo sich zwischen dem ganzen grauen Zombie-Zeugs und Lifestyle-Trash noch ein glücksversprechendes Bröckchen - man wagt es kaum niederzuschreiben, aber wohlan: - Schönheit verbirgt. Madame Berserker singt den Blues.

Auf ihrer Reise ans Ende der Nacht liest die Heldin der verkommenen Warenwelt wortmächtig die Leviten. Denn Berg hat erkannt, daß jeder lautstark angepriesene Produktvorteil eine Neurose der Zielgruppe offenbart. Keine Ausgeburt unserer amoklaufenden Fabriken ist unschuldig. Selbst der antistatische Büroteppich ist bis in die letzte Faser korrupt, denn er garantiert flusenfreies Kriechen durch alle Hierarchien. Alle Mythen des Alltags wollen entschlüsselt werden, und Berg gibt sich alle Mühe. Einer der getreuesten Spiegel der Gesellschaft jedenfalls ist das Aldi-Mittwochsangebot.

Man fragt sich, woher die Autorin all die facettenreich inszenierten Soziolekte kennt. Wo sie all diese exemplarisch grauenhaften Inneneinrichtungen, rituellen Balztänze und Mittagspausentristessen gesehen hat. Es ist, als hätte sie in Wallraffscher Tradition in allen sozialen Schichten under cover recherchiert. Dieser Panorama-Tobsuchtsanfall entwickelt bald eine kathartische Wirkung: Der schaukelnde Duftbaum, Marke abgeholzter Regenwald, das 100 Prozent biologisch abbaubare Menstruationsschwämmchen und der leere, graue, graue Himmel, in dem nicht mal mehr ein Duftbaum baumelt, können einem plötzlich nichts mehr anhaben. Man denkt einfach nur: Herrlich, alles wie in Madame Berserkers Roman. Man ist immunisiert.

Bei Bergs Generalabrechnung mit Gott und Vaterland kann vielleicht hin und wieder ein Absatz daneben gehen. In die hyperventilierende Tirade können sich vielleicht ein, zwei weniger inspirierte Ausfälle einschleichen. Aber das mindert die Qualität dieser Prosa nicht im Geringsten. Im Gegenteil: Der Mut zum Fehlschlag gehört hier zum ästhetischen Programm. Perfekt sind die live operierten Nasen der gecasteten Popstars. Wenn alles, vom neuen Aldi-Flagstore an der Umgehungsstraße bis hin zum deutschen Gegenwartsroman, öde häßlich durchgestylt ist, wird roher Furor zur legitimen Notwehr.

Sibylle Berg setzt auf Risiko. Ihre Prosa ist das ultimative Ende der embedded Lahmschreiberei. Diese mutige Autorin entfernt sich fluchend von der Truppe und macht Schluß mit der faden Bachblütenprosa aus den Mädchenpensionaten für höhere Strebertöchter und den albernen Literaturinstituten der gezähmten Republik. Dieser kristallklar leuchtende Rundumschlag erinnert entfernt an das unzähmbar rotierende Temperament des Wüterichs Louis-Ferdinand Céline. Berg pflegt dieselbe Liebe zu Farce und Bouffonnerie, dieselbe Schwäche für clowneske Picaros. Sie nimmt ihre Albernheiten sehr ernst, dreht und wendet sie, schaut sie mit einem verblüffenden Knick in der Optik an und verwandelt sie in Poesie. Genau. Poesie. Punkt.

Kein deutschsprachiger Gegenwartsautor beherrscht die aufklärerische Groteske wie Madame Berserker. Niemand treibt eine Handlung mit so wieselflinker Phantasie und ähnlich originellem Aberwitz durch rauchende Splattercomiclandschaften. Niemand sagt mit ähnlichem Nachdruck, Tempo und Humor, wie es ist und „Leckt mich“. Berg schöpft aus einem sehr zeitgenössischen Formenfundus. Hier haben „South Park“ und die „Simpsons“ Pate gestanden und nicht die ollen Romanbiedermeier aus den vergangenen Jahrhunderten. Es soll ja noch Autoren geben, die erst Fontane lesen, bevor sie ihre geblümten Rüschenkleidchen und nachtblauen Anzughosen beschreiben.

Mit Sibylle Berg ist der Gegenwartsroman am nächsten bei den schnellen Schnitten der Videospiele. Doch hier amüsiert man sich nicht mit hirnverbrutzelnden Ego-Shootern, sondern beobachtet eine Erzählerin bei der unbarmherzigen Anatomie all der kaputten Egos, ihres eigenen mit eingeschlossen. En passant liest man zahllose bissige Bon Mots und leuchtende Glanzstücke über Conditio Humana, Liebe, Haß und kritische Wolkentheorie: „Korrekte Wolken in Mörder-, Hasen- oder Nachgeburtform habe ich lange nicht mehr gesehen.“

Sibylle Berg ist eine der wenigen deutschsprachigen Autoren, für die es sich noch lohnt, eine Buchhandlung zu überfallen. Es ist, als hätte sich Michel Houellebecq einer Geschlechtsumwandlung unterzogen und plötzlich endlich schreiben gelernt. Berg hat ein ganz spezielles Genre des luziden epischen Amoklaufes entwickelt, das eine erstaunliche Mischung aus meinungsfreudiger Bestandsaufnahme des Häßlichen und melancholischer Suche nach dem Schönen ist. „Ende gut“ ist ein detailversessenes Archiv der bösartigen Viren, häßlichen Dinge und gemeinen Ideen, die unser Leben verseuchen. Aber es ist auch ein spannender Abenteuerroman, der schließlich, man glaubt es kaum, den Schatz des stillen Glücks auf einer unspektakulären Insel hebt. In Finnland. Wo sonst.

Unbeholfene Autorendarsteller wie Maxim Biller oder Feridun Zaimoglu markieren immer mal wieder gerne den wilden Mann. Aber keine Angst: Die wollen nur spielen. Sibylle Berg macht Ernst.


Sibylle Berg: Ende gut. Roman, Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2004, 335 Seiten, 19,90 Euro